Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.paar gute Tage mit Frazzen verderben, und nur erst zu spät das unersezliche ihrer Verschwendung einsehen. Mir wurmte das, und ich konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zu- rükkehrten, und an einem Tische gebroktes Brod in Milch assen, und der Diskurs auf Freude und Leid in der Welt roulirte, den Faden zu ergrei- fen, und recht herzlich gegen die üble Laune zu re- den. Wir Menschen beklagen uns oft, fing ich an, daß der guten Tage so wenig sind, und der schlimmen so viel, und wie mich dünkt, meist mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz hät- ten das Gute zu geniessen, das uns Gott für je- den Tag bereitet, wir würden alsdenn auch Krast genug haben, das Uebel zu tragen, wenn es kommt. -- Wir haben aber unser Gemüth nicht in unserer Gewalt, versezte die Pfarrern, wie viel hängt vom Körper ab! wenn man nicht wohl ist, ist's einem überall nicht recht.-- Jch gestund ihr das ein. Wir wollens also, fuhr ich fort, als eine Krank, heit ansehen, und fragen ob dafür kein Mittel ist! -- Das läßt sich hören, sagte Lotte, ich glau- be wenigstens, daß viel von uns abhängt, ich weis es
paar gute Tage mit Frazzen verderben, und nur erſt zu ſpaͤt das unerſezliche ihrer Verſchwendung einſehen. Mir wurmte das, und ich konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zu- ruͤkkehrten, und an einem Tiſche gebroktes Brod in Milch aſſen, und der Diskurs auf Freude und Leid in der Welt roulirte, den Faden zu ergrei- fen, und recht herzlich gegen die uͤble Laune zu re- den. Wir Menſchen beklagen uns oft, fing ich an, daß der guten Tage ſo wenig ſind, und der ſchlimmen ſo viel, und wie mich duͤnkt, meiſt mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz haͤt- ten das Gute zu genieſſen, das uns Gott fuͤr je- den Tag bereitet, wir wuͤrden alsdenn auch Kraſt genug haben, das Uebel zu tragen, wenn es kommt. — Wir haben aber unſer Gemuͤth nicht in unſerer Gewalt, verſezte die Pfarrern, wie viel haͤngt vom Koͤrper ab! wenn man nicht wohl iſt, iſt’s einem uͤberall nicht recht.— Jch geſtund ihr das ein. Wir wollens alſo, fuhr ich fort, als eine Krank, heit anſehen, und fragen ob dafuͤr kein Mittel iſt! — Das laͤßt ſich hoͤren, ſagte Lotte, ich glau- be wenigſtens, daß viel von uns abhaͤngt, ich weis es
<TEI> <text> <body> <div type="diaryEntry"> <p><pb facs="#f0054" n="54"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> paar gute Tage mit Frazzen verderben, und nur<lb/> erſt zu ſpaͤt das unerſezliche ihrer Verſchwendung<lb/> einſehen. Mir wurmte das, und ich konnte nicht<lb/> umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zu-<lb/> ruͤkkehrten, und an einem Tiſche gebroktes Brod<lb/> in Milch aſſen, und der Diskurs auf Freude und<lb/> Leid in der Welt roulirte, den Faden zu ergrei-<lb/> fen, und recht herzlich gegen die uͤble Laune zu re-<lb/> den. Wir Menſchen beklagen uns oft, fing ich<lb/> an, daß der guten Tage ſo wenig ſind, und der<lb/> ſchlimmen ſo viel, und wie mich duͤnkt, meiſt mit<lb/> Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz haͤt-<lb/> ten das Gute zu genieſſen, das uns Gott fuͤr je-<lb/> den Tag bereitet, wir wuͤrden alsdenn auch Kraſt<lb/> genug haben, das Uebel zu tragen, wenn es kommt. —<lb/> Wir haben aber unſer Gemuͤth nicht in unſerer<lb/> Gewalt, verſezte die Pfarrern, wie viel haͤngt vom<lb/> Koͤrper ab! wenn man nicht wohl iſt, iſt’s einem<lb/> uͤberall nicht recht.— Jch geſtund ihr das ein.<lb/> Wir wollens alſo, fuhr ich fort, als eine Krank,<lb/> heit anſehen, und fragen ob dafuͤr kein Mittel<lb/> iſt! — Das laͤßt ſich hoͤren, ſagte Lotte, ich glau-<lb/> be wenigſtens, daß viel von uns abhaͤngt, ich weis<lb/> <fw place="bottom" type="catch">es</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [54/0054]
paar gute Tage mit Frazzen verderben, und nur
erſt zu ſpaͤt das unerſezliche ihrer Verſchwendung
einſehen. Mir wurmte das, und ich konnte nicht
umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zu-
ruͤkkehrten, und an einem Tiſche gebroktes Brod
in Milch aſſen, und der Diskurs auf Freude und
Leid in der Welt roulirte, den Faden zu ergrei-
fen, und recht herzlich gegen die uͤble Laune zu re-
den. Wir Menſchen beklagen uns oft, fing ich
an, daß der guten Tage ſo wenig ſind, und der
ſchlimmen ſo viel, und wie mich duͤnkt, meiſt mit
Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz haͤt-
ten das Gute zu genieſſen, das uns Gott fuͤr je-
den Tag bereitet, wir wuͤrden alsdenn auch Kraſt
genug haben, das Uebel zu tragen, wenn es kommt. —
Wir haben aber unſer Gemuͤth nicht in unſerer
Gewalt, verſezte die Pfarrern, wie viel haͤngt vom
Koͤrper ab! wenn man nicht wohl iſt, iſt’s einem
uͤberall nicht recht.— Jch geſtund ihr das ein.
Wir wollens alſo, fuhr ich fort, als eine Krank,
heit anſehen, und fragen ob dafuͤr kein Mittel
iſt! — Das laͤßt ſich hoͤren, ſagte Lotte, ich glau-
be wenigſtens, daß viel von uns abhaͤngt, ich weis
es
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/54 |
Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/54>, abgerufen am 18.07.2024. |