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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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sagen, ohngefähr was man zum Lobe der bürger-
lichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der
sich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeschmak-
tes und schlechtes hervor bringen, wie einer, der
sich durch Gesezze und Wohlstand modeln läßt,
nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwür-
diger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber
auch alle Regel, man rede was man wolle, das
wahre Gefühl von Natur und den wahren Aus-
druk derselben zerstören! sagst du, das ist zu hart!
Sie schränkt nur ein, beschneidet die geilen Re-
ben etc. Guter Freund, soll ich dir ein Gleichniß
geben: es ist damit wie mit der Liebe, ein jun-
ges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt
alle Stunden seines Tags bey ihr zu, verschwen-
det all seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr je-
den Augenblik auszudrükken, daß er sich ganz
ihr hingiebt. Und da käme ein Philister, ein
Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und
sagte zu ihm: feiner junger Herr, lieben ist mensch-
lich, nur müßt ihr menschlich lieben! Theilet eu-
re Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die
Erholungsstunden widmet eurem Mädchen, berech-

net



ſagen, ohngefaͤhr was man zum Lobe der buͤrger-
lichen Geſellſchaft ſagen kann. Ein Menſch, der
ſich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeſchmak-
tes und ſchlechtes hervor bringen, wie einer, der
ſich durch Geſezze und Wohlſtand modeln laͤßt,
nie ein unertraͤglicher Nachbar, nie ein merkwuͤr-
diger Boͤſewicht werden kann; dagegen wird aber
auch alle Regel, man rede was man wolle, das
wahre Gefuͤhl von Natur und den wahren Aus-
druk derſelben zerſtoͤren! ſagſt du, das iſt zu hart!
Sie ſchraͤnkt nur ein, beſchneidet die geilen Re-
ben ꝛc. Guter Freund, ſoll ich dir ein Gleichniß
geben: es iſt damit wie mit der Liebe, ein jun-
ges Herz haͤngt ganz an einem Maͤdchen, bringt
alle Stunden ſeines Tags bey ihr zu, verſchwen-
det all ſeine Kraͤfte, all ſein Vermoͤgen, um ihr je-
den Augenblik auszudruͤkken, daß er ſich ganz
ihr hingiebt. Und da kaͤme ein Philiſter, ein
Mann, der in einem oͤffentlichen Amte ſteht, und
ſagte zu ihm: feiner junger Herr, lieben iſt menſch-
lich, nur muͤßt ihr menſchlich lieben! Theilet eu-
re Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die
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[22/0022] ſagen, ohngefaͤhr was man zum Lobe der buͤrger- lichen Geſellſchaft ſagen kann. Ein Menſch, der ſich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeſchmak- tes und ſchlechtes hervor bringen, wie einer, der ſich durch Geſezze und Wohlſtand modeln laͤßt, nie ein unertraͤglicher Nachbar, nie ein merkwuͤr- diger Boͤſewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefuͤhl von Natur und den wahren Aus- druk derſelben zerſtoͤren! ſagſt du, das iſt zu hart! Sie ſchraͤnkt nur ein, beſchneidet die geilen Re- ben ꝛc. Guter Freund, ſoll ich dir ein Gleichniß geben: es iſt damit wie mit der Liebe, ein jun- ges Herz haͤngt ganz an einem Maͤdchen, bringt alle Stunden ſeines Tags bey ihr zu, verſchwen- det all ſeine Kraͤfte, all ſein Vermoͤgen, um ihr je- den Augenblik auszudruͤkken, daß er ſich ganz ihr hingiebt. Und da kaͤme ein Philiſter, ein Mann, der in einem oͤffentlichen Amte ſteht, und ſagte zu ihm: feiner junger Herr, lieben iſt menſch- lich, nur muͤßt ihr menſchlich lieben! Theilet eu- re Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsſtunden widmet eurem Maͤdchen, berech- net

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/22>, abgerufen am 23.11.2024.