Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.ihr jüngster Sohn nicht sechs Monathe alt war. Jhre Krankheit dauerte nicht lange, sie war ruhig, resignirt, nur ihre Kinder thaten ihr weh, beson- ders das kleine. Wie es gegen das Ende gieng, und sie zu mir sagte: Bring mir sie herauf, und wie ich sie herein führte, die kleinen die nicht wußten, und die ältesten die ohne Sinne waren, wie sie um's Bett standen, und wie sie die Hände aufhub und über sie betete, und sie küßte nach ein- ander und sie wegschikte, und zu mir sagte: Sey ihre Mutter! Jch gab ihr die Hand drauf! Du versprichst viel, meine Tochter, sagte sie, das Herz einer Mutter und das Aug einer Mutter! Jch hab oft an deinen dankbaren Thränen gesehen, daß du fühlst was das sey. Hab es für deine Ge- schwister, und für deinen Vater, die Treue, den Gehorsam einer Frau. Du wirst ihn trösten. Sie fragte nach ihm, er war ausgegangen, um uns den unerträglichen Kummer zu verbergen, den er fühlte, der Mann war ganz zerrissen. Albert
ihr juͤngſter Sohn nicht ſechs Monathe alt war. Jhre Krankheit dauerte nicht lange, ſie war ruhig, reſignirt, nur ihre Kinder thaten ihr weh, beſon- ders das kleine. Wie es gegen das Ende gieng, und ſie zu mir ſagte: Bring mir ſie herauf, und wie ich ſie herein fuͤhrte, die kleinen die nicht wußten, und die aͤlteſten die ohne Sinne waren, wie ſie um’s Bett ſtanden, und wie ſie die Haͤnde aufhub und uͤber ſie betete, und ſie kuͤßte nach ein- ander und ſie wegſchikte, und zu mir ſagte: Sey ihre Mutter! Jch gab ihr die Hand drauf! Du verſprichſt viel, meine Tochter, ſagte ſie, das Herz einer Mutter und das Aug einer Mutter! Jch hab oft an deinen dankbaren Thraͤnen geſehen, daß du fuͤhlſt was das ſey. Hab es fuͤr deine Ge- ſchwiſter, und fuͤr deinen Vater, die Treue, den Gehorſam einer Frau. Du wirſt ihn troͤſten. Sie fragte nach ihm, er war ausgegangen, um uns den unertraͤglichen Kummer zu verbergen, den er fuͤhlte, der Mann war ganz zerriſſen. Albert
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ihr juͤngſter Sohn nicht ſechs Monathe alt war.
Jhre Krankheit dauerte nicht lange, ſie war ruhig,
reſignirt, nur ihre Kinder thaten ihr weh, beſon-
ders das kleine. Wie es gegen das Ende gieng,
und ſie zu mir ſagte: Bring mir ſie herauf, und
wie ich ſie herein fuͤhrte, die kleinen die nicht
wußten, und die aͤlteſten die ohne Sinne waren,
wie ſie um’s Bett ſtanden, und wie ſie die Haͤnde
aufhub und uͤber ſie betete, und ſie kuͤßte nach ein-
ander und ſie wegſchikte, und zu mir ſagte: Sey
ihre Mutter! Jch gab ihr die Hand drauf! Du
verſprichſt viel, meine Tochter, ſagte ſie, das Herz
einer Mutter und das Aug einer Mutter! Jch
hab oft an deinen dankbaren Thraͤnen geſehen, daß
du fuͤhlſt was das ſey. Hab es fuͤr deine Ge-
ſchwiſter, und fuͤr deinen Vater, die Treue, den
Gehorſam einer Frau. Du wirſt ihn troͤſten.
Sie fragte nach ihm, er war ausgegangen, um
uns den unertraͤglichen Kummer zu verbergen, den
er fuͤhlte, der Mann war ganz zerriſſen.
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