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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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aber ich bitte sie -- O Albert, sagte sie, ich weis,
du vergißt nicht die Abende, da wir zusammen
saßen an dem kleinen runden Tischgen, wenn der
Papa verreist war, und wir die Kleinen schlafen
geschikt hatten. Du hattest oft ein gutes Buch,
und kamst so selten dazu etwas zu lesen. War
der Umgang dieser herrlichen Seele nicht mehr als
alles! die schöne, sanfte, muntere und immer thä-
tige Frau! Gott kennt meine Thränen, mit de-
nen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hin-
warf: er möchte mich ihr gleich machen.

Lotte! rief ich aus, indem ich mich vor sie
hinwarf, ihre Hände nahm und mit tausend Thrä-
nen nezte. Lotte, der Segen Gottes ruht über
dir, und der Geist deiner Mutter! -- Wenn
sie sie gekannt hätten! sagte sie, indem sie mir die
Hand drükte, -- sie war werth, von ihnen ge-
kannt zu seyn. -- Jch glaubte zu vergehen, nie
war ein grösseres, stolzeres Wort über mich aus-
gesprochen worden, und sie fuhr fort: und diese
Frau mußte in der Blüthe ihrer Jahre dahin, da

ihr



aber ich bitte ſie — O Albert, ſagte ſie, ich weis,
du vergißt nicht die Abende, da wir zuſammen
ſaßen an dem kleinen runden Tiſchgen, wenn der
Papa verreiſt war, und wir die Kleinen ſchlafen
geſchikt hatten. Du hatteſt oft ein gutes Buch,
und kamſt ſo ſelten dazu etwas zu leſen. War
der Umgang dieſer herrlichen Seele nicht mehr als
alles! die ſchoͤne, ſanfte, muntere und immer thaͤ-
tige Frau! Gott kennt meine Thraͤnen, mit de-
nen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hin-
warf: er moͤchte mich ihr gleich machen.

Lotte! rief ich aus, indem ich mich vor ſie
hinwarf, ihre Haͤnde nahm und mit tauſend Thraͤ-
nen nezte. Lotte, der Segen Gottes ruht uͤber
dir, und der Geiſt deiner Mutter! — Wenn
ſie ſie gekannt haͤtten! ſagte ſie, indem ſie mir die
Hand druͤkte, — ſie war werth, von ihnen ge-
kannt zu ſeyn. — Jch glaubte zu vergehen, nie
war ein groͤſſeres, ſtolzeres Wort uͤber mich aus-
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[108/0108] aber ich bitte ſie — O Albert, ſagte ſie, ich weis, du vergißt nicht die Abende, da wir zuſammen ſaßen an dem kleinen runden Tiſchgen, wenn der Papa verreiſt war, und wir die Kleinen ſchlafen geſchikt hatten. Du hatteſt oft ein gutes Buch, und kamſt ſo ſelten dazu etwas zu leſen. War der Umgang dieſer herrlichen Seele nicht mehr als alles! die ſchoͤne, ſanfte, muntere und immer thaͤ- tige Frau! Gott kennt meine Thraͤnen, mit de- nen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hin- warf: er moͤchte mich ihr gleich machen. Lotte! rief ich aus, indem ich mich vor ſie hinwarf, ihre Haͤnde nahm und mit tauſend Thraͤ- nen nezte. Lotte, der Segen Gottes ruht uͤber dir, und der Geiſt deiner Mutter! — Wenn ſie ſie gekannt haͤtten! ſagte ſie, indem ſie mir die Hand druͤkte, — ſie war werth, von ihnen ge- kannt zu ſeyn. — Jch glaubte zu vergehen, nie war ein groͤſſeres, ſtolzeres Wort uͤber mich aus- geſprochen worden, und ſie fuhr fort: und dieſe Frau mußte in der Bluͤthe ihrer Jahre dahin, da ihr

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/108>, abgerufen am 04.12.2024.