Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.mer um mich, wenn ich so am stillen Abend, un- ter ihren Kindern, unter meinen Kindern sizze, und sie um mich versammlet sind, wie sie um sie versammlet waren. Wenn ich so mit einer seh- nenden Thräne gen Himmel sehe, und wünsche: daß sie herein schauen könnte einen Augenblik, wie ich mein Wort halte, das ich ihr in der Stunde des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu seyn. Hundertmal ruf ich aus: Verzeih mir's, Theuerste, wenn ich ihnen nicht bin, was du ihnen warst. Ach! thu ich doch alles was ich kann, sind sie doch gekleidet, genährt, ach und was mehr ist als das alles, gepflegt und geliebet. Könntest du un- sere Eintracht sehn, liebe Heilige! du würdest mit dem heissesten Danke den Gott verherrlichen, den du mit den lezten bittersten Thränen um die Wohl- fahrt deiner Kinder batst. Sie sagte das! O Wil- helm! wer kann wiederholen was sie sagte, wie kann der kalte todte Buchstabe diese himmlische Blüthe des Geistes darstellen. Albert fiel ihr sanft in die Rede: es greift sie zu stark an, liebe Lotte, ich weis, ihre Seele hängt sehr nach diesen Jdeen, aber
mer um mich, wenn ich ſo am ſtillen Abend, un- ter ihren Kindern, unter meinen Kindern ſizze, und ſie um mich verſammlet ſind, wie ſie um ſie verſammlet waren. Wenn ich ſo mit einer ſeh- nenden Thraͤne gen Himmel ſehe, und wuͤnſche: daß ſie herein ſchauen koͤnnte einen Augenblik, wie ich mein Wort halte, das ich ihr in der Stunde des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu ſeyn. Hundertmal ruf ich aus: Verzeih mir’s, Theuerſte, wenn ich ihnen nicht bin, was du ihnen warſt. Ach! thu ich doch alles was ich kann, ſind ſie doch gekleidet, genaͤhrt, ach und was mehr iſt als das alles, gepflegt und geliebet. Koͤnnteſt du un- ſere Eintracht ſehn, liebe Heilige! du wuͤrdeſt mit dem heiſſeſten Danke den Gott verherrlichen, den du mit den lezten bitterſten Thraͤnen um die Wohl- fahrt deiner Kinder batſt. Sie ſagte das! O Wil- helm! wer kann wiederholen was ſie ſagte, wie kann der kalte todte Buchſtabe dieſe himmliſche Bluͤthe des Geiſtes darſtellen. Albert fiel ihr ſanft in die Rede: es greift ſie zu ſtark an, liebe Lotte, ich weis, ihre Seele haͤngt ſehr nach dieſen Jdeen, aber
<TEI> <text> <body> <div type="diaryEntry"> <p><pb facs="#f0107" n="107"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> mer um mich, wenn ich ſo am ſtillen Abend, un-<lb/> ter ihren Kindern, unter meinen Kindern ſizze,<lb/> und ſie um mich verſammlet ſind, wie ſie um ſie<lb/> verſammlet waren. Wenn ich ſo mit einer ſeh-<lb/> nenden Thraͤne gen Himmel ſehe, und wuͤnſche:<lb/> daß ſie herein ſchauen koͤnnte einen Augenblik,<lb/> wie ich mein Wort halte, das ich ihr in der Stunde<lb/> des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu ſeyn.<lb/> Hundertmal ruf ich aus: Verzeih mir’s, Theuerſte,<lb/> wenn ich ihnen nicht bin, was du ihnen warſt.<lb/> Ach! thu ich doch alles was ich kann, ſind ſie<lb/> doch gekleidet, genaͤhrt, ach und was mehr iſt als<lb/> das alles, gepflegt und geliebet. Koͤnnteſt du un-<lb/> ſere Eintracht ſehn, liebe Heilige! du wuͤrdeſt mit<lb/> dem heiſſeſten Danke den Gott verherrlichen, den<lb/> du mit den lezten bitterſten Thraͤnen um die Wohl-<lb/> fahrt deiner Kinder batſt. Sie ſagte das! O Wil-<lb/> helm! wer kann wiederholen was ſie ſagte, wie<lb/> kann der kalte todte Buchſtabe dieſe himmliſche<lb/> Bluͤthe des Geiſtes darſtellen. Albert fiel ihr ſanft<lb/> in die Rede: es greift ſie zu ſtark an, liebe Lotte,<lb/> ich weis, ihre Seele haͤngt ſehr nach dieſen Jdeen,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">aber</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [107/0107]
mer um mich, wenn ich ſo am ſtillen Abend, un-
ter ihren Kindern, unter meinen Kindern ſizze,
und ſie um mich verſammlet ſind, wie ſie um ſie
verſammlet waren. Wenn ich ſo mit einer ſeh-
nenden Thraͤne gen Himmel ſehe, und wuͤnſche:
daß ſie herein ſchauen koͤnnte einen Augenblik,
wie ich mein Wort halte, das ich ihr in der Stunde
des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu ſeyn.
Hundertmal ruf ich aus: Verzeih mir’s, Theuerſte,
wenn ich ihnen nicht bin, was du ihnen warſt.
Ach! thu ich doch alles was ich kann, ſind ſie
doch gekleidet, genaͤhrt, ach und was mehr iſt als
das alles, gepflegt und geliebet. Koͤnnteſt du un-
ſere Eintracht ſehn, liebe Heilige! du wuͤrdeſt mit
dem heiſſeſten Danke den Gott verherrlichen, den
du mit den lezten bitterſten Thraͤnen um die Wohl-
fahrt deiner Kinder batſt. Sie ſagte das! O Wil-
helm! wer kann wiederholen was ſie ſagte, wie
kann der kalte todte Buchſtabe dieſe himmliſche
Bluͤthe des Geiſtes darſtellen. Albert fiel ihr ſanft
in die Rede: es greift ſie zu ſtark an, liebe Lotte,
ich weis, ihre Seele haͤngt ſehr nach dieſen Jdeen,
aber
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |