hatten ihre schlotternden Glieder Ottiliens Ge¬ wand, ihre kraftlosen Finger Ottiliens gefal¬ tete Hände berührt, als das Mädchen auf¬ sprang, Arme und Augen zuerst gen Himmel erhob, dann auf die Kniee vor dem Sarge niederstürzte und andächtig entzückt zu der Herrinn hinauf staunte.
Endlich sprang sie wie begeistert auf und rief mit heiliger Freude: Ja, sie hat mir vergeben! Was mir kein Mensch, was ich mir selbst nicht vergeben konnte, vergiebt mir Gott durch ihren Blick, ihre Gebärde, ihren Mund. Nun ruht sie wieder so still und sanft; aber Ihr habt gesehen wie sie sich auf¬ richtete und mit entfalteten Händen mich seg¬ nete, wie sie mich freundlich anblickte! Ihr habt es alle gehört, Ihr seyd Zeugen daß sie zu mir sagte: Dir ist vergeben! -- Ich bin nun keine Mörderinn mehr unter Euch; sie hat mir verziehen, Gott hat mir verzie¬
hatten ihre ſchlotternden Glieder Ottiliens Ge¬ wand, ihre kraftloſen Finger Ottiliens gefal¬ tete Haͤnde beruͤhrt, als das Maͤdchen auf¬ ſprang, Arme und Augen zuerſt gen Himmel erhob, dann auf die Kniee vor dem Sarge niederſtuͤrzte und andaͤchtig entzuͤckt zu der Herrinn hinauf ſtaunte.
Endlich ſprang ſie wie begeiſtert auf und rief mit heiliger Freude: Ja, ſie hat mir vergeben! Was mir kein Menſch, was ich mir ſelbſt nicht vergeben konnte, vergiebt mir Gott durch ihren Blick, ihre Gebaͤrde, ihren Mund. Nun ruht ſie wieder ſo ſtill und ſanft; aber Ihr habt geſehen wie ſie ſich auf¬ richtete und mit entfalteten Haͤnden mich ſeg¬ nete, wie ſie mich freundlich anblickte! Ihr habt es alle gehoͤrt, Ihr ſeyd Zeugen daß ſie zu mir ſagte: Dir iſt vergeben! — Ich bin nun keine Moͤrderinn mehr unter Euch; ſie hat mir verziehen, Gott hat mir verzie¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0332"n="329"/>
hatten ihre ſchlotternden Glieder Ottiliens Ge¬<lb/>
wand, ihre kraftloſen Finger Ottiliens gefal¬<lb/>
tete Haͤnde beruͤhrt, als das Maͤdchen auf¬<lb/>ſprang, Arme und Augen zuerſt gen Himmel<lb/>
erhob, dann auf die Kniee vor dem Sarge<lb/>
niederſtuͤrzte und andaͤchtig entzuͤckt zu der<lb/>
Herrinn hinauf ſtaunte.</p><lb/><p>Endlich ſprang ſie wie begeiſtert auf und<lb/>
rief mit heiliger Freude: Ja, ſie hat mir<lb/>
vergeben! Was mir kein Menſch, was ich<lb/>
mir ſelbſt nicht vergeben konnte, vergiebt mir<lb/>
Gott durch ihren Blick, ihre Gebaͤrde, ihren<lb/>
Mund. Nun ruht ſie wieder ſo ſtill und<lb/>ſanft; aber Ihr habt geſehen wie ſie ſich auf¬<lb/>
richtete und mit entfalteten Haͤnden mich ſeg¬<lb/>
nete, wie ſie mich freundlich anblickte! Ihr<lb/>
habt es alle gehoͤrt, Ihr ſeyd Zeugen daß<lb/>ſie zu mir ſagte: Dir iſt vergeben! — Ich<lb/>
bin nun keine Moͤrderinn mehr unter Euch;<lb/>ſie hat mir verziehen, Gott hat mir verzie¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[329/0332]
hatten ihre ſchlotternden Glieder Ottiliens Ge¬
wand, ihre kraftloſen Finger Ottiliens gefal¬
tete Haͤnde beruͤhrt, als das Maͤdchen auf¬
ſprang, Arme und Augen zuerſt gen Himmel
erhob, dann auf die Kniee vor dem Sarge
niederſtuͤrzte und andaͤchtig entzuͤckt zu der
Herrinn hinauf ſtaunte.
Endlich ſprang ſie wie begeiſtert auf und
rief mit heiliger Freude: Ja, ſie hat mir
vergeben! Was mir kein Menſch, was ich
mir ſelbſt nicht vergeben konnte, vergiebt mir
Gott durch ihren Blick, ihre Gebaͤrde, ihren
Mund. Nun ruht ſie wieder ſo ſtill und
ſanft; aber Ihr habt geſehen wie ſie ſich auf¬
richtete und mit entfalteten Haͤnden mich ſeg¬
nete, wie ſie mich freundlich anblickte! Ihr
habt es alle gehoͤrt, Ihr ſeyd Zeugen daß
ſie zu mir ſagte: Dir iſt vergeben! — Ich
bin nun keine Moͤrderinn mehr unter Euch;
ſie hat mir verziehen, Gott hat mir verzie¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/332>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.