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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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Verzeihen Sie mir, daß ich so rede; aber ich
habe unglaublich mit jenem armen Mädchen
gelitten, als es Luciane aus den verborgenen
Zimmern des Hauses hervorzog, sich freund¬
lich mit ihm beschäftigte, es in der besten
Absicht zu Spiel und Tanz nöthigen wollte.
Als das arme Kind bange und immer bänger
zuletzt floh und in Ohnmacht sank, ich es in
meine Arme faßte, die Gesellschaft erschreckt
aufgeregt und jeder erst recht neugierig auf
die Unglückselige ward: da dachte ich nicht,
daß mir ein gleiches Schicksal bevorstehe; aber
mein Mitgefühl, so wahr und lebhaft; ist
noch lebendig. Jetzt kann ich mein Mitlei¬
den gegen mich selbst wenden und mich hüthen,
daß ich nicht zu ähnlichen Auftritten Anlaß gebe.

Du wirst aber, liebes Kind, versetzte Char¬
lotte, dem Anblick der Menschen dich nirgends
entziehen können. Klöster haben wir nicht,
in denen sonst eine Freystatt für solche Ge¬
fühle zu finden war.

Verzeihen Sie mir, daß ich ſo rede; aber ich
habe unglaublich mit jenem armen Maͤdchen
gelitten, als es Luciane aus den verborgenen
Zimmern des Hauſes hervorzog, ſich freund¬
lich mit ihm beſchaͤftigte, es in der beſten
Abſicht zu Spiel und Tanz noͤthigen wollte.
Als das arme Kind bange und immer baͤnger
zuletzt floh und in Ohnmacht ſank, ich es in
meine Arme faßte, die Geſellſchaft erſchreckt
aufgeregt und jeder erſt recht neugierig auf
die Ungluͤckſelige ward: da dachte ich nicht,
daß mir ein gleiches Schickſal bevorſtehe; aber
mein Mitgefuͤhl, ſo wahr und lebhaft; iſt
noch lebendig. Jetzt kann ich mein Mitlei¬
den gegen mich ſelbſt wenden und mich huͤthen,
daß ich nicht zu aͤhnlichen Auftritten Anlaß gebe.

Du wirſt aber, liebes Kind, verſetzte Char¬
lotte, dem Anblick der Menſchen dich nirgends
entziehen koͤnnen. Kloͤſter haben wir nicht,
in denen ſonſt eine Freyſtatt fuͤr ſolche Ge¬
fuͤhle zu finden war.

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[277/0280] Verzeihen Sie mir, daß ich ſo rede; aber ich habe unglaublich mit jenem armen Maͤdchen gelitten, als es Luciane aus den verborgenen Zimmern des Hauſes hervorzog, ſich freund¬ lich mit ihm beſchaͤftigte, es in der beſten Abſicht zu Spiel und Tanz noͤthigen wollte. Als das arme Kind bange und immer baͤnger zuletzt floh und in Ohnmacht ſank, ich es in meine Arme faßte, die Geſellſchaft erſchreckt aufgeregt und jeder erſt recht neugierig auf die Ungluͤckſelige ward: da dachte ich nicht, daß mir ein gleiches Schickſal bevorſtehe; aber mein Mitgefuͤhl, ſo wahr und lebhaft; iſt noch lebendig. Jetzt kann ich mein Mitlei¬ den gegen mich ſelbſt wenden und mich huͤthen, daß ich nicht zu aͤhnlichen Auftritten Anlaß gebe. Du wirſt aber, liebes Kind, verſetzte Char¬ lotte, dem Anblick der Menſchen dich nirgends entziehen koͤnnen. Kloͤſter haben wir nicht, in denen ſonſt eine Freyſtatt fuͤr ſolche Ge¬ fuͤhle zu finden war.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/280>, abgerufen am 24.11.2024.