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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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ging hinein, fing ein ableitendes Gespräch an
und führte die Einbildungskraft von einem
Gegenstand auf den andern, bis er endlich
den Freund Charlotten vergegenwärtigte, des¬
sen gewisse Theilnahme, dessen Nähe dem
Geiste, der Gesinnung nach, die er denn bald
in eine wirkliche übergehen ließ. Genug sie
erfuhr, der Freund stehe vor der Thür, er
wisse alles und wünsche eingelassen zu wer¬
den.

Der Major trat herein; ihn begrüßte Char¬
lotte mit einem schmerzlichen Lächeln. Er stand
vor ihr. Sie hub die grünseidne Decke auf,
die den Leichnam verbarg, und bey dem dunk¬
len Schein einer Kerze erblickte er, nicht ohne
geheimes Grausen, sein erstarrtes Ebenbild.
Charlotte deutete auf einen Stuhl, und so
saßen sie gegen einander über, schweigend, die
Nacht hindurch. Ottilie lag noch ruhig auf
den Knieen Charlottens; sie athmete sanft,
sie schlief, oder sie schien zu schlafen.

ging hinein, fing ein ableitendes Geſpraͤch an
und fuͤhrte die Einbildungskraft von einem
Gegenſtand auf den andern, bis er endlich
den Freund Charlotten vergegenwaͤrtigte, deſ¬
ſen gewiſſe Theilnahme, deſſen Naͤhe dem
Geiſte, der Geſinnung nach, die er denn bald
in eine wirkliche uͤbergehen ließ. Genug ſie
erfuhr, der Freund ſtehe vor der Thuͤr, er
wiſſe alles und wuͤnſche eingelaſſen zu wer¬
den.

Der Major trat herein; ihn begruͤßte Char¬
lotte mit einem ſchmerzlichen Laͤcheln. Er ſtand
vor ihr. Sie hub die gruͤnſeidne Decke auf,
die den Leichnam verbarg, und bey dem dunk¬
len Schein einer Kerze erblickte er, nicht ohne
geheimes Grauſen, ſein erſtarrtes Ebenbild.
Charlotte deutete auf einen Stuhl, und ſo
ſaßen ſie gegen einander uͤber, ſchweigend, die
Nacht hindurch. Ottilie lag noch ruhig auf
den Knieen Charlottens; ſie athmete ſanft,
ſie ſchlief, oder ſie ſchien zu ſchlafen.

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[260/0263] ging hinein, fing ein ableitendes Geſpraͤch an und fuͤhrte die Einbildungskraft von einem Gegenſtand auf den andern, bis er endlich den Freund Charlotten vergegenwaͤrtigte, deſ¬ ſen gewiſſe Theilnahme, deſſen Naͤhe dem Geiſte, der Geſinnung nach, die er denn bald in eine wirkliche uͤbergehen ließ. Genug ſie erfuhr, der Freund ſtehe vor der Thuͤr, er wiſſe alles und wuͤnſche eingelaſſen zu wer¬ den. Der Major trat herein; ihn begruͤßte Char¬ lotte mit einem ſchmerzlichen Laͤcheln. Er ſtand vor ihr. Sie hub die gruͤnſeidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bey dem dunk¬ len Schein einer Kerze erblickte er, nicht ohne geheimes Grauſen, ſein erſtarrtes Ebenbild. Charlotte deutete auf einen Stuhl, und ſo ſaßen ſie gegen einander uͤber, ſchweigend, die Nacht hindurch. Ottilie lag noch ruhig auf den Knieen Charlottens; ſie athmete ſanft, ſie ſchlief, oder ſie ſchien zu ſchlafen.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/263>, abgerufen am 24.11.2024.