chen, sie wiederhohlt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke Seewärts. Auf dem linken Arme das Kind, in der lin¬ ken Hand das Buch, in der rechten das Ru¬ der, schwankt auch sie und fällt in den Kahn. Das Ruder entfährt ihr, nach der einen Seite, und wie sie sich erhalten will, Kind und Buch, nach der andern, alles ins Was¬ ser. Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen. Die freye rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzu¬ richten; endlich gelingt's, sie zieht das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind ge¬ schlossen, es hat aufgehört zu athmen.
In dem Augenblicke kehrt ihre ganze Be¬ sonnenheit zurück, aber um desto größer ist ihr Schmerz. Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das Ruder schwimmt fern, sie erblickt Niemanden am Ufer und auch was hätte es ihr geholfen, Jemanden zu sehen!
chen, ſie wiederhohlt den Stoß, der Kahn ſchwankt und gleitet eine Strecke Seewaͤrts. Auf dem linken Arme das Kind, in der lin¬ ken Hand das Buch, in der rechten das Ru¬ der, ſchwankt auch ſie und faͤllt in den Kahn. Das Ruder entfaͤhrt ihr, nach der einen Seite, und wie ſie ſich erhalten will, Kind und Buch, nach der andern, alles ins Waſ¬ ſer. Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert ſie ſelbſt am Aufſtehen. Die freye rechte Hand iſt nicht hinreichend ſich umzuwenden, ſich aufzu¬ richten; endlich gelingt's, ſie zieht das Kind aus dem Waſſer, aber ſeine Augen ſind ge¬ ſchloſſen, es hat aufgehoͤrt zu athmen.
In dem Augenblicke kehrt ihre ganze Be¬ ſonnenheit zuruͤck, aber um deſto groͤßer iſt ihr Schmerz. Der Kahn treibt faſt in der Mitte des Sees, das Ruder ſchwimmt fern, ſie erblickt Niemanden am Ufer und auch was haͤtte es ihr geholfen, Jemanden zu ſehen!
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chen, ſie wiederhohlt den Stoß, der Kahn
ſchwankt und gleitet eine Strecke Seewaͤrts.
Auf dem linken Arme das Kind, in der lin¬
ken Hand das Buch, in der rechten das Ru¬
der, ſchwankt auch ſie und faͤllt in den Kahn.
Das Ruder entfaͤhrt ihr, nach der einen
Seite, und wie ſie ſich erhalten will, Kind
und Buch, nach der andern, alles ins Waſ¬
ſer. Sie ergreift noch des Kindes Gewand;
aber ihre unbequeme Lage hindert ſie ſelbſt
am Aufſtehen. Die freye rechte Hand iſt
nicht hinreichend ſich umzuwenden, ſich aufzu¬
richten; endlich gelingt's, ſie zieht das Kind
aus dem Waſſer, aber ſeine Augen ſind ge¬
ſchloſſen, es hat aufgehoͤrt zu athmen.
In dem Augenblicke kehrt ihre ganze Be¬
ſonnenheit zuruͤck, aber um deſto groͤßer iſt
ihr Schmerz. Der Kahn treibt faſt in der
Mitte des Sees, das Ruder ſchwimmt fern,
ſie erblickt Niemanden am Ufer und auch was
haͤtte es ihr geholfen, Jemanden zu ſehen!
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/257>, abgerufen am 23.11.2024.
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