außerordentliche Fälle: so hätte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere vollkommene Gewißheit gab. Für solche Ver¬ hältnisse ist den Weibern ein besonderer Tact angeboren und sie haben Ursache so wie Ge¬ legenheit ihn auszubilden.
Jemehr die schöne Braut solche Gesinnun¬ gen bey sich ganz heimlich nährte, je weniger nur irgend Jemand dasjenige auszusprechen im Fall war, was zu Gunsten des Bräuti¬ gams gelten konnte, was Verhältnisse, was Pflicht anzurathen und zu gebieten, ja was eine unabänderliche Nothwendigkeit unwieder¬ ruflich zu fordern schien; desto mehr begün¬ stigte das schöne Herz seine Einseitigkeit, und indem sie von der einen Seite durch Welt und Familie, Bräutigam und eigne Zusage unauflöslich gebunden war, von der andern der emporstrebende Jüngling gar kein Ge¬ heimniß von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich nur als ein treuer
außerordentliche Faͤlle: ſo haͤtte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere vollkommene Gewißheit gab. Fuͤr ſolche Ver¬ haͤltniſſe iſt den Weibern ein beſonderer Tact angeboren und ſie haben Urſache ſo wie Ge¬ legenheit ihn auszubilden.
Jemehr die ſchoͤne Braut ſolche Geſinnun¬ gen bey ſich ganz heimlich naͤhrte, je weniger nur irgend Jemand dasjenige auszuſprechen im Fall war, was zu Gunſten des Braͤuti¬ gams gelten konnte, was Verhaͤltniſſe, was Pflicht anzurathen und zu gebieten, ja was eine unabaͤnderliche Nothwendigkeit unwieder¬ ruflich zu fordern ſchien; deſto mehr beguͤn¬ ſtigte das ſchoͤne Herz ſeine Einſeitigkeit, und indem ſie von der einen Seite durch Welt und Familie, Braͤutigam und eigne Zuſage unaufloͤslich gebunden war, von der andern der emporſtrebende Juͤngling gar kein Ge¬ heimniß von ſeinen Geſinnungen, Planen und Ausſichten machte, ſich nur als ein treuer
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[206/0209]
außerordentliche Faͤlle: ſo haͤtte man wohl an
dem einen gezweifelt, wenn einem der andere
vollkommene Gewißheit gab. Fuͤr ſolche Ver¬
haͤltniſſe iſt den Weibern ein beſonderer Tact
angeboren und ſie haben Urſache ſo wie Ge¬
legenheit ihn auszubilden.
Jemehr die ſchoͤne Braut ſolche Geſinnun¬
gen bey ſich ganz heimlich naͤhrte, je weniger
nur irgend Jemand dasjenige auszuſprechen
im Fall war, was zu Gunſten des Braͤuti¬
gams gelten konnte, was Verhaͤltniſſe, was
Pflicht anzurathen und zu gebieten, ja was
eine unabaͤnderliche Nothwendigkeit unwieder¬
ruflich zu fordern ſchien; deſto mehr beguͤn¬
ſtigte das ſchoͤne Herz ſeine Einſeitigkeit, und
indem ſie von der einen Seite durch Welt
und Familie, Braͤutigam und eigne Zuſage
unaufloͤslich gebunden war, von der andern
der emporſtrebende Juͤngling gar kein Ge¬
heimniß von ſeinen Geſinnungen, Planen und
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/209>, abgerufen am 24.11.2024.
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