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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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bracht wäre, so daß der, dem ich meine Ge¬
danken einzeln zuzählen, meine Empfindungen
einzeln zureichen will, immer schon lange vor¬
her wissen könnte, wo es mit mir hinaus
wollte? Wenn mir Jemand ins Buch sieht,
so ist mir immer als wenn ich in zwey Stü¬
cke gerissen würde.

Charlotte, deren Gewandtheit sich in grö¬
ßeren und kleineren Zirkeln besonders dadurch
bewies, daß sie jede unangenehme, jede hef¬
tige, ja selbst nur lebhafte Aeußerung zu be¬
seitigen, ein sich verlängerndes Gespräch zu
unterbrechen, ein stockendes anzuregen wußte,
war auch dießmal von ihrer guten Gabe nicht
verlassen. Du wirst mir meinen Fehler ge¬
wiß verzeihen, wenn ich bekenne was mir
diesen Augenblick begegnet ist. Ich hörte von
Verwandtschaften lesen, und da dacht' ich eben
gleich an meine Verwandten, an ein Paar
Vettern, die mir gerade in diesem Augen¬
blick zu schaffen machen. Meine Aufmerk¬

bracht waͤre, ſo daß der, dem ich meine Ge¬
danken einzeln zuzaͤhlen, meine Empfindungen
einzeln zureichen will, immer ſchon lange vor¬
her wiſſen koͤnnte, wo es mit mir hinaus
wollte? Wenn mir Jemand ins Buch ſieht,
ſo iſt mir immer als wenn ich in zwey Stuͤ¬
cke geriſſen wuͤrde.

Charlotte, deren Gewandtheit ſich in groͤ¬
ßeren und kleineren Zirkeln beſonders dadurch
bewies, daß ſie jede unangenehme, jede hef¬
tige, ja ſelbſt nur lebhafte Aeußerung zu be¬
ſeitigen, ein ſich verlaͤngerndes Geſpraͤch zu
unterbrechen, ein ſtockendes anzuregen wußte,
war auch dießmal von ihrer guten Gabe nicht
verlaſſen. Du wirſt mir meinen Fehler ge¬
wiß verzeihen, wenn ich bekenne was mir
dieſen Augenblick begegnet iſt. Ich hoͤrte von
Verwandtſchaften leſen, und da dacht' ich eben
gleich an meine Verwandten, an ein Paar
Vettern, die mir gerade in dieſem Augen¬
blick zu ſchaffen machen. Meine Aufmerk¬

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[74/0079] bracht waͤre, ſo daß der, dem ich meine Ge¬ danken einzeln zuzaͤhlen, meine Empfindungen einzeln zureichen will, immer ſchon lange vor¬ her wiſſen koͤnnte, wo es mit mir hinaus wollte? Wenn mir Jemand ins Buch ſieht, ſo iſt mir immer als wenn ich in zwey Stuͤ¬ cke geriſſen wuͤrde. Charlotte, deren Gewandtheit ſich in groͤ¬ ßeren und kleineren Zirkeln beſonders dadurch bewies, daß ſie jede unangenehme, jede hef¬ tige, ja ſelbſt nur lebhafte Aeußerung zu be¬ ſeitigen, ein ſich verlaͤngerndes Geſpraͤch zu unterbrechen, ein ſtockendes anzuregen wußte, war auch dießmal von ihrer guten Gabe nicht verlaſſen. Du wirſt mir meinen Fehler ge¬ wiß verzeihen, wenn ich bekenne was mir dieſen Augenblick begegnet iſt. Ich hoͤrte von Verwandtſchaften leſen, und da dacht' ich eben gleich an meine Verwandten, an ein Paar Vettern, die mir gerade in dieſem Augen¬ blick zu ſchaffen machen. Meine Aufmerk¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/79>, abgerufen am 27.11.2024.