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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht
gut weiß, daß die arme Ottilie ganz von uns
abhängt, sich ihrer Vortheile übermüthig gegen
sie bedient, und unsre Wohlthat dadurch ge¬
wissermaßen vernichtet.

Doch wer ist so gebildet, daß er nicht
seine Vorzüge gegen andre manchmal auf eine
grausame Weise geltend machte? Wer steht so
hoch, daß er unter einem solchen Druck nicht
manchmal leiden müßte? Durch diese Prüfun¬
gen wächst Ottiliens Werth; aber seitdem ich
den peinlichen Zustand recht deutlich einsehe,
habe ich mir Mühe gegeben, sie anderwärts
unterzubringen. Stündlich soll mir eine Ant¬
wort kommen, und alsdann will ich nicht zau¬
dern. So steht es mit mir, mein Bester.
Du siehst, wir tragen beyderseits dieselben
Sorgen in einem treuen freundschaftlichen Her¬
zen. Laß uns sie gemeinsam tragen, da sie
sich nicht gegeneinander aufheben.

Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht
gut weiß, daß die arme Ottilie ganz von uns
abhaͤngt, ſich ihrer Vortheile uͤbermuͤthig gegen
ſie bedient, und unſre Wohlthat dadurch ge¬
wiſſermaßen vernichtet.

Doch wer iſt ſo gebildet, daß er nicht
ſeine Vorzuͤge gegen andre manchmal auf eine
grauſame Weiſe geltend machte? Wer ſteht ſo
hoch, daß er unter einem ſolchen Druck nicht
manchmal leiden muͤßte? Durch dieſe Pruͤfun¬
gen waͤchſt Ottiliens Werth; aber ſeitdem ich
den peinlichen Zuſtand recht deutlich einſehe,
habe ich mir Muͤhe gegeben, ſie anderwaͤrts
unterzubringen. Stuͤndlich ſoll mir eine Ant¬
wort kommen, und alsdann will ich nicht zau¬
dern. So ſteht es mit mir, mein Beſter.
Du ſiehſt, wir tragen beyderſeits dieſelben
Sorgen in einem treuen freundſchaftlichen Her¬
zen. Laß uns ſie gemeinſam tragen, da ſie
ſich nicht gegeneinander aufheben.

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[28/0033] Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht gut weiß, daß die arme Ottilie ganz von uns abhaͤngt, ſich ihrer Vortheile uͤbermuͤthig gegen ſie bedient, und unſre Wohlthat dadurch ge¬ wiſſermaßen vernichtet. Doch wer iſt ſo gebildet, daß er nicht ſeine Vorzuͤge gegen andre manchmal auf eine grauſame Weiſe geltend machte? Wer ſteht ſo hoch, daß er unter einem ſolchen Druck nicht manchmal leiden muͤßte? Durch dieſe Pruͤfun¬ gen waͤchſt Ottiliens Werth; aber ſeitdem ich den peinlichen Zuſtand recht deutlich einſehe, habe ich mir Muͤhe gegeben, ſie anderwaͤrts unterzubringen. Stuͤndlich ſoll mir eine Ant¬ wort kommen, und alsdann will ich nicht zau¬ dern. So ſteht es mit mir, mein Beſter. Du ſiehſt, wir tragen beyderſeits dieſelben Sorgen in einem treuen freundſchaftlichen Her¬ zen. Laß uns ſie gemeinſam tragen, da ſie ſich nicht gegeneinander aufheben.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/33>, abgerufen am 23.11.2024.