an. Eine gewisse Bewegung war an ihr sichtbar. Sie hatte geweint, und wenn wei¬ che Personen dadurch meist an Anmuth verlie¬ ren, so gewinnen diejenigen dadurch unendlich, die wir gewöhnlich als stark und gefaßt ken¬ nen. Eduard war so liebenswürdig, so freund¬ lich, so dringend; er bat sie, bey ihr bleiben zu dürfen, er forderte nicht, bald ernst bald scherzhaft suchte er sie zu bereden, er dachte nicht daran, daß er Rechte habe und löschte zuletzt muthwillig die Kerze aus.
In der Lampendämmerung sogleich behaup¬ tete die innre Neigung, behauptete die Ein¬ bildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche. Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Ge¬ genwärtiges reizend und wonnevoll durchein¬ ander.
an. Eine gewiſſe Bewegung war an ihr ſichtbar. Sie hatte geweint, und wenn wei¬ che Perſonen dadurch meiſt an Anmuth verlie¬ ren, ſo gewinnen diejenigen dadurch unendlich, die wir gewoͤhnlich als ſtark und gefaßt ken¬ nen. Eduard war ſo liebenswuͤrdig, ſo freund¬ lich, ſo dringend; er bat ſie, bey ihr bleiben zu duͤrfen, er forderte nicht, bald ernſt bald ſcherzhaft ſuchte er ſie zu bereden, er dachte nicht daran, daß er Rechte habe und loͤſchte zuletzt muthwillig die Kerze aus.
In der Lampendaͤmmerung ſogleich behaup¬ tete die innre Neigung, behauptete die Ein¬ bildungskraft ihre Rechte uͤber das Wirkliche. Eduard hielt nur Ottilien in ſeinen Armen; Charlotten ſchwebte der Hauptmann naͤher oder ferner vor der Seele, und ſo verwebten, wunderſam genug, ſich Abweſendes und Ge¬ genwaͤrtiges reizend und wonnevoll durchein¬ ander.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0212"n="207"/>
an. Eine gewiſſe Bewegung war an ihr<lb/>ſichtbar. Sie hatte geweint, und wenn wei¬<lb/>
che Perſonen dadurch meiſt an Anmuth verlie¬<lb/>
ren, ſo gewinnen diejenigen dadurch unendlich,<lb/>
die wir gewoͤhnlich als ſtark und gefaßt ken¬<lb/>
nen. Eduard war ſo liebenswuͤrdig, ſo freund¬<lb/>
lich, ſo dringend; er bat ſie, bey ihr bleiben<lb/>
zu duͤrfen, er forderte nicht, bald ernſt bald<lb/>ſcherzhaft ſuchte er ſie zu bereden, er dachte<lb/>
nicht daran, daß er Rechte habe und loͤſchte<lb/>
zuletzt muthwillig die Kerze aus.</p><lb/><p>In der Lampendaͤmmerung ſogleich behaup¬<lb/>
tete die innre Neigung, behauptete die Ein¬<lb/>
bildungskraft ihre Rechte uͤber das Wirkliche.<lb/>
Eduard hielt nur Ottilien in ſeinen Armen;<lb/>
Charlotten ſchwebte der Hauptmann naͤher<lb/>
oder ferner vor der Seele, und ſo verwebten,<lb/>
wunderſam genug, ſich Abweſendes und Ge¬<lb/>
genwaͤrtiges reizend und wonnevoll durchein¬<lb/>
ander.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[207/0212]
an. Eine gewiſſe Bewegung war an ihr
ſichtbar. Sie hatte geweint, und wenn wei¬
che Perſonen dadurch meiſt an Anmuth verlie¬
ren, ſo gewinnen diejenigen dadurch unendlich,
die wir gewoͤhnlich als ſtark und gefaßt ken¬
nen. Eduard war ſo liebenswuͤrdig, ſo freund¬
lich, ſo dringend; er bat ſie, bey ihr bleiben
zu duͤrfen, er forderte nicht, bald ernſt bald
ſcherzhaft ſuchte er ſie zu bereden, er dachte
nicht daran, daß er Rechte habe und loͤſchte
zuletzt muthwillig die Kerze aus.
In der Lampendaͤmmerung ſogleich behaup¬
tete die innre Neigung, behauptete die Ein¬
bildungskraft ihre Rechte uͤber das Wirkliche.
Eduard hielt nur Ottilien in ſeinen Armen;
Charlotten ſchwebte der Hauptmann naͤher
oder ferner vor der Seele, und ſo verwebten,
wunderſam genug, ſich Abweſendes und Ge¬
genwaͤrtiges reizend und wonnevoll durchein¬
ander.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/212>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.