ich mich gerne selbst vergessen. Es ist nicht genug, daß man sein Leben für einen Freund wagen könne, man muß auch im Nothfall seine Überzeugung für ihn verleugnen. Un¬ sere liebste Leidenschaft, unsere besten Wün¬ sche sind wir für ihn aufzuopfern schuldig. Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich schon die Qual voraussehe, die ich von Ly¬ diens Thränen, von ihrer Verzweiflung werde zu erdulden haben.
Dagegen erwartet sie auch keine geringe Belohnung, versetzte Jarno, indem Sie Fräu¬ lein Theresen kennen lernen, ein Frauenzim¬ mer, wie es ihrer wenige giebt; sie beschämt hundert Männer, und ich möchte sie eine wahre Amazone nennen, wenn andere nur als artige Hermaphroditen in dieser zwey¬ deutigen Kleidung herum gehen.
Wilhelm war betroffen, er hoffte in The¬ resen seine Amazone wieder zu finden, um
ich mich gerne ſelbſt vergeſſen. Es iſt nicht genug, daß man ſein Leben für einen Freund wagen könne, man muß auch im Nothfall ſeine Überzeugung für ihn verleugnen. Un¬ ſere liebſte Leidenſchaft, unſere beſten Wün¬ ſche ſind wir für ihn aufzuopfern ſchuldig. Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich ſchon die Qual vorausſehe, die ich von Ly¬ diens Thränen, von ihrer Verzweiflung werde zu erdulden haben.
Dagegen erwartet ſie auch keine geringe Belohnung, verſetzte Jarno, indem Sie Fräu¬ lein Thereſen kennen lernen, ein Frauenzim¬ mer, wie es ihrer wenige giebt; ſie beſchämt hundert Männer, und ich möchte ſie eine wahre Amazone nennen, wenn andere nur als artige Hermaphroditen in dieſer zwey¬ deutigen Kleidung herum gehen.
Wilhelm war betroffen, er hoffte in The¬ reſen ſeine Amazone wieder zu finden, um
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0060"n="56"/>
ich mich gerne ſelbſt vergeſſen. Es iſt nicht<lb/>
genug, daß man ſein Leben für einen Freund<lb/>
wagen könne, man muß auch im Nothfall<lb/>ſeine Überzeugung für ihn verleugnen. Un¬<lb/>ſere liebſte Leidenſchaft, unſere beſten Wün¬<lb/>ſche ſind wir für ihn aufzuopfern ſchuldig.<lb/>
Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich<lb/>ſchon die Qual vorausſehe, die ich von Ly¬<lb/>
diens Thränen, von ihrer Verzweiflung werde<lb/>
zu erdulden haben.</p><lb/><p>Dagegen erwartet ſie auch keine geringe<lb/>
Belohnung, verſetzte Jarno, indem Sie Fräu¬<lb/>
lein Thereſen kennen lernen, ein Frauenzim¬<lb/>
mer, wie es ihrer wenige giebt; ſie beſchämt<lb/>
hundert Männer, und ich möchte ſie eine<lb/>
wahre Amazone nennen, wenn andere nur<lb/>
als artige Hermaphroditen in dieſer zwey¬<lb/>
deutigen Kleidung herum gehen.</p><lb/><p>Wilhelm war betroffen, er hoffte in The¬<lb/>
reſen ſeine Amazone wieder zu finden, um<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[56/0060]
ich mich gerne ſelbſt vergeſſen. Es iſt nicht
genug, daß man ſein Leben für einen Freund
wagen könne, man muß auch im Nothfall
ſeine Überzeugung für ihn verleugnen. Un¬
ſere liebſte Leidenſchaft, unſere beſten Wün¬
ſche ſind wir für ihn aufzuopfern ſchuldig.
Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich
ſchon die Qual vorausſehe, die ich von Ly¬
diens Thränen, von ihrer Verzweiflung werde
zu erdulden haben.
Dagegen erwartet ſie auch keine geringe
Belohnung, verſetzte Jarno, indem Sie Fräu¬
lein Thereſen kennen lernen, ein Frauenzim¬
mer, wie es ihrer wenige giebt; ſie beſchämt
hundert Männer, und ich möchte ſie eine
wahre Amazone nennen, wenn andere nur
als artige Hermaphroditen in dieſer zwey¬
deutigen Kleidung herum gehen.
Wilhelm war betroffen, er hoffte in The¬
reſen ſeine Amazone wieder zu finden, um
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/60>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.