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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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Winkeln, ihre alte Freundin saß zu ihren
Häupten, er trat hinzu und grüßte sie, und
fragte: wie sich ihre Gebieterin befände?
Ihr seht es, versetzte diese nicht ohne Ver¬
legenheit. Er blickte den Leichnam nur von
der Seite an. Nach einigem Zaudern nahm
er ihre Hand. Erschreckt von der Kälte, ließ
er sie sogleich wieder fahren, er sah sich un¬
ruhig um, und sagte zu der Alten: ich kann
jetzt nicht bey ihr bleiben, ich habe noch ei¬
nen sehr weiten Weg zu machen, ich will
aber zur rechten Zeit schon wieder da seyn,
sag ihr das, wenn sie aufwacht.

So ging er hinweg, wir wurden nur
spät von diesem Vorgange benachrichtigt,
man forschte nach, wo er hingekommen sey,
aber vergebens! Wie er sich durch Berge
und Thäler durchgearbeitet haben mag, ist
unbegreiflich. Endlich nach langer Zeit fan¬
den wir in Graubünden eine Spur von

Winkeln, ihre alte Freundin ſaß zu ihren
Häupten, er trat hinzu und grüßte ſie, und
fragte: wie ſich ihre Gebieterin befände?
Ihr ſeht es, verſetzte dieſe nicht ohne Ver¬
legenheit. Er blickte den Leichnam nur von
der Seite an. Nach einigem Zaudern nahm
er ihre Hand. Erſchreckt von der Kälte, ließ
er ſie ſogleich wieder fahren, er ſah ſich un¬
ruhig um, und ſagte zu der Alten: ich kann
jetzt nicht bey ihr bleiben, ich habe noch ei¬
nen ſehr weiten Weg zu machen, ich will
aber zur rechten Zeit ſchon wieder da ſeyn,
ſag ihr das, wenn ſie aufwacht.

So ging er hinweg, wir wurden nur
ſpät von dieſem Vorgange benachrichtigt,
man forſchte nach, wo er hingekommen ſey,
aber vergebens! Wie er ſich durch Berge
und Thäler durchgearbeitet haben mag, iſt
unbegreiflich. Endlich nach langer Zeit fan¬
den wir in Graubünden eine Spur von

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[462/0466] Winkeln, ihre alte Freundin ſaß zu ihren Häupten, er trat hinzu und grüßte ſie, und fragte: wie ſich ihre Gebieterin befände? Ihr ſeht es, verſetzte dieſe nicht ohne Ver¬ legenheit. Er blickte den Leichnam nur von der Seite an. Nach einigem Zaudern nahm er ihre Hand. Erſchreckt von der Kälte, ließ er ſie ſogleich wieder fahren, er ſah ſich un¬ ruhig um, und ſagte zu der Alten: ich kann jetzt nicht bey ihr bleiben, ich habe noch ei¬ nen ſehr weiten Weg zu machen, ich will aber zur rechten Zeit ſchon wieder da ſeyn, ſag ihr das, wenn ſie aufwacht. So ging er hinweg, wir wurden nur ſpät von dieſem Vorgange benachrichtigt, man forſchte nach, wo er hingekommen ſey, aber vergebens! Wie er ſich durch Berge und Thäler durchgearbeitet haben mag, iſt unbegreiflich. Endlich nach langer Zeit fan¬ den wir in Graubünden eine Spur von

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/466>, abgerufen am 25.11.2024.