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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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stande zugebracht, er überließ sich ganz dem
Genuß einer heiligen Schwärmerey, jenen
halb geistigen, halb physischen Empfindun¬
gen, die, wie sie ihn eine Zeit lang in den
dritten Himmel erhuben, bald darauf in
einen Abgrund von Ohnmacht und leeres
Elend versinken ließen. Bey meines Vaters
Lebzeiten war an keine Veränderung zu den¬
ken, und was hätte man wünschen oder vor¬
schlagen sollen? Nach dem Tode unsers Va¬
ters besuchte er uns fleißig; sein Zustand,
der uns im Anfang jammerte, ward nach
und nach um vieles erträglicher, denn die
Vernunft hatte gesiegt. Allein je sichrer sie
ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf
dem reinen Wege der Natur versprach, desto
lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn
von seinen Gelübden befreyen sollten; er
gab zu verstehen, daß seine Absicht auf Spe¬
rata, unsere Nachbarin, gerichtet sey.

ſtande zugebracht, er überließ ſich ganz dem
Genuß einer heiligen Schwärmerey, jenen
halb geiſtigen, halb phyſiſchen Empfindun¬
gen, die, wie ſie ihn eine Zeit lang in den
dritten Himmel erhuben, bald darauf in
einen Abgrund von Ohnmacht und leeres
Elend verſinken ließen. Bey meines Vaters
Lebzeiten war an keine Veränderung zu den¬
ken, und was hätte man wünſchen oder vor¬
ſchlagen ſollen? Nach dem Tode unſers Va¬
ters beſuchte er uns fleißig; ſein Zuſtand,
der uns im Anfang jammerte, ward nach
und nach um vieles erträglicher, denn die
Vernunft hatte geſiegt. Allein je ſichrer ſie
ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf
dem reinen Wege der Natur verſprach, deſto
lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn
von ſeinen Gelübden befreyen ſollten; er
gab zu verſtehen, daß ſeine Abſicht auf Spe¬
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[431/0435] ſtande zugebracht, er überließ ſich ganz dem Genuß einer heiligen Schwärmerey, jenen halb geiſtigen, halb phyſiſchen Empfindun¬ gen, die, wie ſie ihn eine Zeit lang in den dritten Himmel erhuben, bald darauf in einen Abgrund von Ohnmacht und leeres Elend verſinken ließen. Bey meines Vaters Lebzeiten war an keine Veränderung zu den¬ ken, und was hätte man wünſchen oder vor¬ ſchlagen ſollen? Nach dem Tode unſers Va¬ ters beſuchte er uns fleißig; ſein Zuſtand, der uns im Anfang jammerte, ward nach und nach um vieles erträglicher, denn die Vernunft hatte geſiegt. Allein je ſichrer ſie ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf dem reinen Wege der Natur verſprach, deſto lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn von ſeinen Gelübden befreyen ſollten; er gab zu verſtehen, daß ſeine Abſicht auf Spe¬ rata, unſere Nachbarin, gerichtet ſey.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/435>, abgerufen am 25.11.2024.