stande zugebracht, er überließ sich ganz dem Genuß einer heiligen Schwärmerey, jenen halb geistigen, halb physischen Empfindun¬ gen, die, wie sie ihn eine Zeit lang in den dritten Himmel erhuben, bald darauf in einen Abgrund von Ohnmacht und leeres Elend versinken ließen. Bey meines Vaters Lebzeiten war an keine Veränderung zu den¬ ken, und was hätte man wünschen oder vor¬ schlagen sollen? Nach dem Tode unsers Va¬ ters besuchte er uns fleißig; sein Zustand, der uns im Anfang jammerte, ward nach und nach um vieles erträglicher, denn die Vernunft hatte gesiegt. Allein je sichrer sie ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf dem reinen Wege der Natur versprach, desto lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn von seinen Gelübden befreyen sollten; er gab zu verstehen, daß seine Absicht auf Spe¬ rata, unsere Nachbarin, gerichtet sey.
ſtande zugebracht, er überließ ſich ganz dem Genuß einer heiligen Schwärmerey, jenen halb geiſtigen, halb phyſiſchen Empfindun¬ gen, die, wie ſie ihn eine Zeit lang in den dritten Himmel erhuben, bald darauf in einen Abgrund von Ohnmacht und leeres Elend verſinken ließen. Bey meines Vaters Lebzeiten war an keine Veränderung zu den¬ ken, und was hätte man wünſchen oder vor¬ ſchlagen ſollen? Nach dem Tode unſers Va¬ ters beſuchte er uns fleißig; ſein Zuſtand, der uns im Anfang jammerte, ward nach und nach um vieles erträglicher, denn die Vernunft hatte geſiegt. Allein je ſichrer ſie ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf dem reinen Wege der Natur verſprach, deſto lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn von ſeinen Gelübden befreyen ſollten; er gab zu verſtehen, daß ſeine Abſicht auf Spe¬ rata, unſere Nachbarin, gerichtet ſey.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0435"n="431"/>ſtande zugebracht, er überließ ſich ganz dem<lb/>
Genuß einer heiligen Schwärmerey, jenen<lb/>
halb geiſtigen, halb phyſiſchen Empfindun¬<lb/>
gen, die, wie ſie ihn eine Zeit lang in den<lb/>
dritten Himmel erhuben, bald darauf in<lb/>
einen Abgrund von Ohnmacht und leeres<lb/>
Elend verſinken ließen. Bey meines Vaters<lb/>
Lebzeiten war an keine Veränderung zu den¬<lb/>
ken, und was hätte man wünſchen oder vor¬<lb/>ſchlagen ſollen? Nach dem Tode unſers Va¬<lb/>
ters beſuchte er uns fleißig; ſein Zuſtand,<lb/>
der uns im Anfang jammerte, ward nach<lb/>
und nach um vieles erträglicher, denn die<lb/>
Vernunft hatte geſiegt. Allein je ſichrer ſie<lb/>
ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf<lb/>
dem reinen Wege der Natur verſprach, deſto<lb/>
lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn<lb/>
von ſeinen Gelübden befreyen ſollten; er<lb/>
gab zu verſtehen, daß ſeine Abſicht auf Spe¬<lb/>
rata, unſere Nachbarin, gerichtet ſey.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[431/0435]
ſtande zugebracht, er überließ ſich ganz dem
Genuß einer heiligen Schwärmerey, jenen
halb geiſtigen, halb phyſiſchen Empfindun¬
gen, die, wie ſie ihn eine Zeit lang in den
dritten Himmel erhuben, bald darauf in
einen Abgrund von Ohnmacht und leeres
Elend verſinken ließen. Bey meines Vaters
Lebzeiten war an keine Veränderung zu den¬
ken, und was hätte man wünſchen oder vor¬
ſchlagen ſollen? Nach dem Tode unſers Va¬
ters beſuchte er uns fleißig; ſein Zuſtand,
der uns im Anfang jammerte, ward nach
und nach um vieles erträglicher, denn die
Vernunft hatte geſiegt. Allein je ſichrer ſie
ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf
dem reinen Wege der Natur verſprach, deſto
lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn
von ſeinen Gelübden befreyen ſollten; er
gab zu verſtehen, daß ſeine Abſicht auf Spe¬
rata, unſere Nachbarin, gerichtet ſey.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/435>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.