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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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Noch selbigen Abend ward man durch
die Ankunft der Gräfin überrascht. Wilhelm
bebte an allen Gliedern, als sie hereintrat,
und sie, ob sie gleich vorbereitet war, hielt
sich an ihrer Schwester, die ihr bald einen
Stuhl reichte. Wie sonderbar einfach war
ihr Anzug, und wie verändert ihre Gestalt!
Wilhelm durfte kaum auf sie hinblicken, sie
begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige
allgemeine Worte konnten ihre Gesinnung
und Empfindungen nicht verbergen. Der
Markese war bey Zeiten zu Bette gegangen,
und die Gesellschaft hatte noch keine Lust
sich zu trennen; der Abbe brachte ein Ma¬
nuscript hervor. Ich habe, sagte er, sogleich
die sonderbare Geschichte, wie sie mir anver¬
traut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man
am wenigsten Tinte und Feder sparen soll,
das ist beym Aufzeichnen einzelner Umstände
merkwürdiger Begebenheiten. Man unter¬

Noch ſelbigen Abend ward man durch
die Ankunft der Gräfin überraſcht. Wilhelm
bebte an allen Gliedern, als ſie hereintrat,
und ſie, ob ſie gleich vorbereitet war, hielt
ſich an ihrer Schweſter, die ihr bald einen
Stuhl reichte. Wie ſonderbar einfach war
ihr Anzug, und wie verändert ihre Geſtalt!
Wilhelm durfte kaum auf ſie hinblicken, ſie
begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige
allgemeine Worte konnten ihre Geſinnung
und Empfindungen nicht verbergen. Der
Markeſe war bey Zeiten zu Bette gegangen,
und die Geſellſchaft hatte noch keine Luſt
ſich zu trennen; der Abbé brachte ein Ma¬
nuſcript hervor. Ich habe, ſagte er, ſogleich
die ſonderbare Geſchichte, wie ſie mir anver¬
traut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man
am wenigſten Tinte und Feder ſparen ſoll,
das iſt beym Aufzeichnen einzelner Umſtände
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[426/0430] Noch ſelbigen Abend ward man durch die Ankunft der Gräfin überraſcht. Wilhelm bebte an allen Gliedern, als ſie hereintrat, und ſie, ob ſie gleich vorbereitet war, hielt ſich an ihrer Schweſter, die ihr bald einen Stuhl reichte. Wie ſonderbar einfach war ihr Anzug, und wie verändert ihre Geſtalt! Wilhelm durfte kaum auf ſie hinblicken, ſie begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige allgemeine Worte konnten ihre Geſinnung und Empfindungen nicht verbergen. Der Markeſe war bey Zeiten zu Bette gegangen, und die Geſellſchaft hatte noch keine Luſt ſich zu trennen; der Abbé brachte ein Ma¬ nuſcript hervor. Ich habe, ſagte er, ſogleich die ſonderbare Geſchichte, wie ſie mir anver¬ traut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man am wenigſten Tinte und Feder ſparen ſoll, das iſt beym Aufzeichnen einzelner Umſtände merkwürdiger Begebenheiten. Man unter¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/430>, abgerufen am 22.11.2024.