Noch selbigen Abend ward man durch die Ankunft der Gräfin überrascht. Wilhelm bebte an allen Gliedern, als sie hereintrat, und sie, ob sie gleich vorbereitet war, hielt sich an ihrer Schwester, die ihr bald einen Stuhl reichte. Wie sonderbar einfach war ihr Anzug, und wie verändert ihre Gestalt! Wilhelm durfte kaum auf sie hinblicken, sie begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige allgemeine Worte konnten ihre Gesinnung und Empfindungen nicht verbergen. Der Markese war bey Zeiten zu Bette gegangen, und die Gesellschaft hatte noch keine Lust sich zu trennen; der Abbe brachte ein Ma¬ nuscript hervor. Ich habe, sagte er, sogleich die sonderbare Geschichte, wie sie mir anver¬ traut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man am wenigsten Tinte und Feder sparen soll, das ist beym Aufzeichnen einzelner Umstände merkwürdiger Begebenheiten. Man unter¬
Noch ſelbigen Abend ward man durch die Ankunft der Gräfin überraſcht. Wilhelm bebte an allen Gliedern, als ſie hereintrat, und ſie, ob ſie gleich vorbereitet war, hielt ſich an ihrer Schweſter, die ihr bald einen Stuhl reichte. Wie ſonderbar einfach war ihr Anzug, und wie verändert ihre Geſtalt! Wilhelm durfte kaum auf ſie hinblicken, ſie begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige allgemeine Worte konnten ihre Geſinnung und Empfindungen nicht verbergen. Der Markeſe war bey Zeiten zu Bette gegangen, und die Geſellſchaft hatte noch keine Luſt ſich zu trennen; der Abbé brachte ein Ma¬ nuſcript hervor. Ich habe, ſagte er, ſogleich die ſonderbare Geſchichte, wie ſie mir anver¬ traut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man am wenigſten Tinte und Feder ſparen ſoll, das iſt beym Aufzeichnen einzelner Umſtände merkwürdiger Begebenheiten. Man unter¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0430"n="426"/><p>Noch ſelbigen Abend ward man durch<lb/>
die Ankunft der Gräfin überraſcht. Wilhelm<lb/>
bebte an allen Gliedern, als ſie hereintrat,<lb/>
und ſie, ob ſie gleich vorbereitet war, hielt<lb/>ſich an ihrer Schweſter, die ihr bald einen<lb/>
Stuhl reichte. Wie ſonderbar einfach war<lb/>
ihr Anzug, und wie verändert ihre Geſtalt!<lb/>
Wilhelm durfte kaum auf ſie hinblicken, ſie<lb/>
begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige<lb/>
allgemeine Worte konnten ihre Geſinnung<lb/>
und Empfindungen nicht verbergen. Der<lb/>
Markeſe war bey Zeiten zu Bette gegangen,<lb/>
und die Geſellſchaft hatte noch keine Luſt<lb/>ſich zu trennen; der Abbé brachte ein Ma¬<lb/>
nuſcript hervor. Ich habe, ſagte er, ſogleich<lb/>
die ſonderbare Geſchichte, wie ſie mir anver¬<lb/>
traut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man<lb/>
am wenigſten Tinte und Feder ſparen ſoll,<lb/>
das iſt beym Aufzeichnen einzelner Umſtände<lb/>
merkwürdiger Begebenheiten. Man unter¬<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[426/0430]
Noch ſelbigen Abend ward man durch
die Ankunft der Gräfin überraſcht. Wilhelm
bebte an allen Gliedern, als ſie hereintrat,
und ſie, ob ſie gleich vorbereitet war, hielt
ſich an ihrer Schweſter, die ihr bald einen
Stuhl reichte. Wie ſonderbar einfach war
ihr Anzug, und wie verändert ihre Geſtalt!
Wilhelm durfte kaum auf ſie hinblicken, ſie
begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige
allgemeine Worte konnten ihre Geſinnung
und Empfindungen nicht verbergen. Der
Markeſe war bey Zeiten zu Bette gegangen,
und die Geſellſchaft hatte noch keine Luſt
ſich zu trennen; der Abbé brachte ein Ma¬
nuſcript hervor. Ich habe, ſagte er, ſogleich
die ſonderbare Geſchichte, wie ſie mir anver¬
traut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man
am wenigſten Tinte und Feder ſparen ſoll,
das iſt beym Aufzeichnen einzelner Umſtände
merkwürdiger Begebenheiten. Man unter¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/430>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.