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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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keit zu entziehen. Eine balsamische Masse
ist durch alle Adern gedrungen, und färbt
nun an der Stelle des Bluts die so früh
verblichenen Wangen. Treten Sie näher,
meine Freunde, und sehen Sie das Wunder
der Kunst und Sorgfalt!

Er hub den Schleyer auf, und das Kind
lag in seinen Engelkleidern, wie schlafend,
in der angenehmsten Stellung. Alle traten
herbey, und bewunderten diesen Schein des
Lebens. Nur Wilhelm blieb in seinem Sessel
sitzen, er konnte sich nicht fassen; was er
empfand durfte er nicht denken, und jeder
Gedanke schien seine Empfindung zerstöhren
zu wollen.

Die Rede war um des Markese willen
französisch gesprochen worden. Dieser trat mit
den andern herbey, und betrachtete die Ge¬
stalt mit Aufmerksamkeit. Der Abbe fuhr
fort: mit einem heiligen Vertrauen war auch

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keit zu entziehen. Eine balſamiſche Maſſe
iſt durch alle Adern gedrungen, und färbt
nun an der Stelle des Bluts die ſo früh
verblichenen Wangen. Treten Sie näher,
meine Freunde, und ſehen Sie das Wunder
der Kunſt und Sorgfalt!

Er hub den Schleyer auf, und das Kind
lag in ſeinen Engelkleidern, wie ſchlafend,
in der angenehmſten Stellung. Alle traten
herbey, und bewunderten dieſen Schein des
Lebens. Nur Wilhelm blieb in ſeinem Seſſel
ſitzen, er konnte ſich nicht faſſen; was er
empfand durfte er nicht denken, und jeder
Gedanke ſchien ſeine Empfindung zerſtöhren
zu wollen.

Die Rede war um des Markeſe willen
franzöſiſch geſprochen worden. Dieſer trat mit
den andern herbey, und betrachtete die Ge¬
ſtalt mit Aufmerkſamkeit. Der Abbé fuhr
fort: mit einem heiligen Vertrauen war auch

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[419/0423] keit zu entziehen. Eine balſamiſche Maſſe iſt durch alle Adern gedrungen, und färbt nun an der Stelle des Bluts die ſo früh verblichenen Wangen. Treten Sie näher, meine Freunde, und ſehen Sie das Wunder der Kunſt und Sorgfalt! Er hub den Schleyer auf, und das Kind lag in ſeinen Engelkleidern, wie ſchlafend, in der angenehmſten Stellung. Alle traten herbey, und bewunderten dieſen Schein des Lebens. Nur Wilhelm blieb in ſeinem Seſſel ſitzen, er konnte ſich nicht faſſen; was er empfand durfte er nicht denken, und jeder Gedanke ſchien ſeine Empfindung zerſtöhren zu wollen. Die Rede war um des Markeſe willen franzöſiſch geſprochen worden. Dieſer trat mit den andern herbey, und betrachtete die Ge¬ ſtalt mit Aufmerkſamkeit. Der Abbé fuhr fort: mit einem heiligen Vertrauen war auch D d 2

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/423>, abgerufen am 22.11.2024.