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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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Schere einer Parze, die sich in Widersprüchen
zu gefallen scheint. Von dem Kinde, das
wir hier bestatten, wissen wir wenig zu sa¬
gen. Noch ist uns unbekannt, woher es kam,
seine Eltern kennen wir nicht, und die Zahl
seiner Lebensjahre vermuthen wir nur. Sein
tiefes verschlossenes Herz ließ uns seine in¬
nersten Angelegenheiten kaum errathen, nichts
war deutlich an ihm, nichts offenbar, als
die Liebe zu dem Mann, der es aus den
Händen eines Barbaren rettete. Diese zärt¬
liche Neigung, diese lebhafte Dankbarkeit
schien die Flamme zu seyn, die das Öl ihres
Lebens aufzehrte; die Geschicklichkeit des Arz¬
tes konnte das schöne Leben nicht erhalten,
die sorgfältigste Freundschaft vermochte nicht
es zu fristen. Aber wenn die Kunst den schei¬
denden Geist nicht zu fesseln vermochte; so
hat sie alle ihre Mittel angewandt, den
Körper zu erhalten und ihn der Vergänglich¬

Schere einer Parze, die ſich in Widerſprüchen
zu gefallen ſcheint. Von dem Kinde, das
wir hier beſtatten, wiſſen wir wenig zu ſa¬
gen. Noch iſt uns unbekannt, woher es kam,
ſeine Eltern kennen wir nicht, und die Zahl
ſeiner Lebensjahre vermuthen wir nur. Sein
tiefes verſchloſſenes Herz ließ uns ſeine in¬
nerſten Angelegenheiten kaum errathen, nichts
war deutlich an ihm, nichts offenbar, als
die Liebe zu dem Mann, der es aus den
Händen eines Barbaren rettete. Dieſe zärt¬
liche Neigung, dieſe lebhafte Dankbarkeit
ſchien die Flamme zu ſeyn, die das Öl ihres
Lebens aufzehrte; die Geſchicklichkeit des Arz¬
tes konnte das ſchöne Leben nicht erhalten,
die ſorgfältigſte Freundſchaft vermochte nicht
es zu friſten. Aber wenn die Kunſt den ſchei¬
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hat ſie alle ihre Mittel angewandt, den
Körper zu erhalten und ihn der Vergänglich¬

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[418/0422] Schere einer Parze, die ſich in Widerſprüchen zu gefallen ſcheint. Von dem Kinde, das wir hier beſtatten, wiſſen wir wenig zu ſa¬ gen. Noch iſt uns unbekannt, woher es kam, ſeine Eltern kennen wir nicht, und die Zahl ſeiner Lebensjahre vermuthen wir nur. Sein tiefes verſchloſſenes Herz ließ uns ſeine in¬ nerſten Angelegenheiten kaum errathen, nichts war deutlich an ihm, nichts offenbar, als die Liebe zu dem Mann, der es aus den Händen eines Barbaren rettete. Dieſe zärt¬ liche Neigung, dieſe lebhafte Dankbarkeit ſchien die Flamme zu ſeyn, die das Öl ihres Lebens aufzehrte; die Geſchicklichkeit des Arz¬ tes konnte das ſchöne Leben nicht erhalten, die ſorgfältigſte Freundſchaft vermochte nicht es zu friſten. Aber wenn die Kunſt den ſchei¬ denden Geiſt nicht zu feſſeln vermochte; ſo hat ſie alle ihre Mittel angewandt, den Körper zu erhalten und ihn der Vergänglich¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/422>, abgerufen am 25.11.2024.