Liebe mit himmlischem Blick und dem Kranz der Unsterblichkeit.
Die Knaben waren schon fern, der Abbe stand von seinem Sessel auf, und trat hin¬ ter den Sarg. Es ist die Verordnung, sagte er, des Mannes, der diese stille Wohnung bereitet hat, daß jeder neue Ankömmling mit Feyerlichkeit empfangen werden soll. Nach ihm, dem Erbauer dieses Hauses, dem Er¬ richter dieser Stätte, haben wir zuerst einen jungen Fremdling hierher gebracht, und so faßt schon dieser kleine Raum zwey ganz verschiedene Opfer der strengen, willkühr¬ lichen und unerbittlichen Todesgöttinn. Nach bestimmten Gesetzen treten wir ins Leben ein, die Tage sind gezählt, die uns zum Anblicke des Lichts reif machen, aber für die Lebensdauer ist kein Gesetz. Der schwächste Lebensfaden zieht sich in unerwartete Länge, und den stärksten zerschneidet gewaltsam die
W. Meisters Lehrj. 4. D d
Liebe mit himmliſchem Blick und dem Kranz der Unſterblichkeit.
Die Knaben waren ſchon fern, der Abbé ſtand von ſeinem Seſſel auf, und trat hin¬ ter den Sarg. Es iſt die Verordnung, ſagte er, des Mannes, der dieſe ſtille Wohnung bereitet hat, daß jeder neue Ankömmling mit Feyerlichkeit empfangen werden ſoll. Nach ihm, dem Erbauer dieſes Hauſes, dem Er¬ richter dieſer Stätte, haben wir zuerſt einen jungen Fremdling hierher gebracht, und ſo faßt ſchon dieſer kleine Raum zwey ganz verſchiedene Opfer der ſtrengen, willkühr¬ lichen und unerbittlichen Todesgöttinn. Nach beſtimmten Geſetzen treten wir ins Leben ein, die Tage ſind gezählt, die uns zum Anblicke des Lichts reif machen, aber für die Lebensdauer iſt kein Geſetz. Der ſchwächſte Lebensfaden zieht ſich in unerwartete Länge, und den ſtärkſten zerſchneidet gewaltſam die
W. Meiſters Lehrj. 4. D d
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0421"n="417"/>
Liebe mit himmliſchem Blick und dem Kranz<lb/>
der Unſterblichkeit.</p><lb/><p>Die Knaben waren ſchon fern, der Abbé<lb/>ſtand von ſeinem Seſſel auf, und trat hin¬<lb/>
ter den Sarg. Es iſt die Verordnung, ſagte<lb/>
er, des Mannes, der dieſe ſtille Wohnung<lb/>
bereitet hat, daß jeder neue Ankömmling mit<lb/>
Feyerlichkeit empfangen werden ſoll. Nach<lb/>
ihm, dem Erbauer dieſes Hauſes, dem Er¬<lb/>
richter dieſer Stätte, haben wir zuerſt einen<lb/>
jungen Fremdling hierher gebracht, und ſo<lb/>
faßt ſchon dieſer kleine Raum zwey ganz<lb/>
verſchiedene Opfer der ſtrengen, willkühr¬<lb/>
lichen und unerbittlichen Todesgöttinn. Nach<lb/>
beſtimmten Geſetzen treten wir ins Leben<lb/>
ein, die Tage ſind gezählt, die uns zum<lb/>
Anblicke des Lichts reif machen, aber für die<lb/>
Lebensdauer iſt kein Geſetz. Der ſchwächſte<lb/>
Lebensfaden zieht ſich in unerwartete Länge,<lb/>
und den ſtärkſten zerſchneidet gewaltſam die<lb/><fwplace="bottom"type="sig">W. Meiſters Lehrj. 4. D d<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[417/0421]
Liebe mit himmliſchem Blick und dem Kranz
der Unſterblichkeit.
Die Knaben waren ſchon fern, der Abbé
ſtand von ſeinem Seſſel auf, und trat hin¬
ter den Sarg. Es iſt die Verordnung, ſagte
er, des Mannes, der dieſe ſtille Wohnung
bereitet hat, daß jeder neue Ankömmling mit
Feyerlichkeit empfangen werden ſoll. Nach
ihm, dem Erbauer dieſes Hauſes, dem Er¬
richter dieſer Stätte, haben wir zuerſt einen
jungen Fremdling hierher gebracht, und ſo
faßt ſchon dieſer kleine Raum zwey ganz
verſchiedene Opfer der ſtrengen, willkühr¬
lichen und unerbittlichen Todesgöttinn. Nach
beſtimmten Geſetzen treten wir ins Leben
ein, die Tage ſind gezählt, die uns zum
Anblicke des Lichts reif machen, aber für die
Lebensdauer iſt kein Geſetz. Der ſchwächſte
Lebensfaden zieht ſich in unerwartete Länge,
und den ſtärkſten zerſchneidet gewaltſam die
W. Meiſters Lehrj. 4. D d
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/421>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.