kümmerlichen Märtyrerthum führt. Deswe¬ gen bieten die Künstler unserer Zeit nur im¬ mer an, um niemals zu geben. Sie wollen immer reizen, um niemals zu befriedigen; alles ist nur angedeutet, und man findet nirgends Grund noch Ausführung. Man darf aber auch nur eine Zeit lang ruhig in einer Gallerie verweilen, und beobachten, nach welchen Kunstwerken sich die Menge zieht, welche gepriesen und welche vernach¬ läßigt werden, so hat man wenig Lust an der Gegenwart, und für die Zukunft wenig Hoffnung.
Ja, versetzte der Abbe, und so bilden sich Liebhaber und Künstler wechselsweise; der Liebhaber sucht nur einen allgemeinen unbe¬ stimmten Genuß, das Kunstwerk soll ihm ohngefähr wie ein Naturwerk behagen, und die Menschen glauben, die Organe, ein Kunstwerk zu genießen, bildeten sich eben
kümmerlichen Märtyrerthum führt. Deswe¬ gen bieten die Künſtler unſerer Zeit nur im¬ mer an, um niemals zu geben. Sie wollen immer reizen, um niemals zu befriedigen; alles iſt nur angedeutet, und man findet nirgends Grund noch Ausführung. Man darf aber auch nur eine Zeit lang ruhig in einer Gallerie verweilen, und beobachten, nach welchen Kunſtwerken ſich die Menge zieht, welche geprieſen und welche vernach¬ läßigt werden, ſo hat man wenig Luſt an der Gegenwart, und für die Zukunft wenig Hoffnung.
Ja, verſetzte der Abbé, und ſo bilden ſich Liebhaber und Künſtler wechſelsweiſe; der Liebhaber ſucht nur einen allgemeinen unbe¬ ſtimmten Genuß, das Kunſtwerk ſoll ihm ohngefähr wie ein Naturwerk behagen, und die Menſchen glauben, die Organe, ein Kunſtwerk zu genießen, bildeten ſich eben
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0412"n="408"/>
kümmerlichen Märtyrerthum führt. Deswe¬<lb/>
gen bieten die Künſtler unſerer Zeit nur im¬<lb/>
mer an, um niemals zu geben. Sie wollen<lb/>
immer reizen, um niemals zu befriedigen;<lb/>
alles iſt nur angedeutet, und man findet<lb/>
nirgends Grund noch Ausführung. Man<lb/>
darf aber auch nur eine Zeit lang ruhig in<lb/>
einer Gallerie verweilen, und beobachten,<lb/>
nach welchen Kunſtwerken ſich die Menge<lb/>
zieht, welche geprieſen und welche vernach¬<lb/>
läßigt werden, ſo hat man wenig Luſt an<lb/>
der Gegenwart, und für die Zukunft wenig<lb/>
Hoffnung.</p><lb/><p>Ja, verſetzte der Abbé, und ſo bilden<lb/>ſich Liebhaber und Künſtler wechſelsweiſe; der<lb/>
Liebhaber ſucht nur einen allgemeinen unbe¬<lb/>ſtimmten Genuß, das Kunſtwerk ſoll ihm<lb/>
ohngefähr wie ein Naturwerk behagen, und<lb/>
die Menſchen glauben, die Organe, ein<lb/>
Kunſtwerk zu genießen, bildeten ſich eben<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[408/0412]
kümmerlichen Märtyrerthum führt. Deswe¬
gen bieten die Künſtler unſerer Zeit nur im¬
mer an, um niemals zu geben. Sie wollen
immer reizen, um niemals zu befriedigen;
alles iſt nur angedeutet, und man findet
nirgends Grund noch Ausführung. Man
darf aber auch nur eine Zeit lang ruhig in
einer Gallerie verweilen, und beobachten,
nach welchen Kunſtwerken ſich die Menge
zieht, welche geprieſen und welche vernach¬
läßigt werden, ſo hat man wenig Luſt an
der Gegenwart, und für die Zukunft wenig
Hoffnung.
Ja, verſetzte der Abbé, und ſo bilden
ſich Liebhaber und Künſtler wechſelsweiſe; der
Liebhaber ſucht nur einen allgemeinen unbe¬
ſtimmten Genuß, das Kunſtwerk ſoll ihm
ohngefähr wie ein Naturwerk behagen, und
die Menſchen glauben, die Organe, ein
Kunſtwerk zu genießen, bildeten ſich eben
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/412>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.