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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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den übrigen Umständen zu verliehren fürch¬
tete. Sie war zurückhaltender als ihr Ge¬
mahl, sie merkte ihm seinen Wunsch ab,
und wußte, ohne ihm entgegen zu gehn,
eine Erklärung zu erleichtern. Sie machte
ihre Bedingungen, und erhielt fast alles,
was sie verlangte, und so entstand das Te¬
stament, worin so wenig für das Kind ge¬
sorgt zu seyn schien. Der alte Arzt war ge¬
storben, man wendete sich an einen jungen,
thätigen, gescheuten Mann, er ward gut
belohnt, und er konnte selbst eine Ehre darin
suchen, die Unschicklichkeit und Übereilung
seines abgeschiedenen Collegen herauszusetzen
und zu verbessern. Die wahre Mutter wil¬
ligte nicht ungern ein, man spielte die Ver¬
stellung sehr gut, Therese kam zur Welt,
und wurde einer Stiefmutter zugeeignet, in¬
deß ihre wahre Mutter ein Opfer dieser
Verstellung ward, indem sie sich zu früh

den übrigen Umſtänden zu verliehren fürch¬
tete. Sie war zurückhaltender als ihr Ge¬
mahl, ſie merkte ihm ſeinen Wunſch ab,
und wußte, ohne ihm entgegen zu gehn,
eine Erklärung zu erleichtern. Sie machte
ihre Bedingungen, und erhielt faſt alles,
was ſie verlangte, und ſo entſtand das Te¬
ſtament, worin ſo wenig für das Kind ge¬
ſorgt zu ſeyn ſchien. Der alte Arzt war ge¬
ſtorben, man wendete ſich an einen jungen,
thätigen, geſcheuten Mann, er ward gut
belohnt, und er konnte ſelbſt eine Ehre darin
ſuchen, die Unſchicklichkeit und Übereilung
ſeines abgeſchiedenen Collegen herauszuſetzen
und zu verbeſſern. Die wahre Mutter wil¬
ligte nicht ungern ein, man ſpielte die Ver¬
ſtellung ſehr gut, Thereſe kam zur Welt,
und wurde einer Stiefmutter zugeeignet, in¬
deß ihre wahre Mutter ein Opfer dieſer
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[377/0381] den übrigen Umſtänden zu verliehren fürch¬ tete. Sie war zurückhaltender als ihr Ge¬ mahl, ſie merkte ihm ſeinen Wunſch ab, und wußte, ohne ihm entgegen zu gehn, eine Erklärung zu erleichtern. Sie machte ihre Bedingungen, und erhielt faſt alles, was ſie verlangte, und ſo entſtand das Te¬ ſtament, worin ſo wenig für das Kind ge¬ ſorgt zu ſeyn ſchien. Der alte Arzt war ge¬ ſtorben, man wendete ſich an einen jungen, thätigen, geſcheuten Mann, er ward gut belohnt, und er konnte ſelbſt eine Ehre darin ſuchen, die Unſchicklichkeit und Übereilung ſeines abgeſchiedenen Collegen herauszuſetzen und zu verbeſſern. Die wahre Mutter wil¬ ligte nicht ungern ein, man ſpielte die Ver¬ ſtellung ſehr gut, Thereſe kam zur Welt, und wurde einer Stiefmutter zugeeignet, in¬ deß ihre wahre Mutter ein Opfer dieſer Verſtellung ward, indem ſie ſich zu früh

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/381>, abgerufen am 23.11.2024.