Haben Sie denn, fragte Wilhelm, bey der Erziehung Ihrer kleinen weiblichen Welt, auch die Grundsätze jener sonderbaren Män¬ ner angenommen? lassen Sie denn auch jede Natur sich selbst ausbilden? lassen Sie denn auch die Ihrigen suchen und irren, Mißgriffe thun, sich glücklich am Ziel finden, oder un¬ glücklich in die Irre verliehren?
Nein! sagte Natalie, diese Art mit Men¬ schen zu handeln würde ganz gegen meine Gesinnungen seyn. Wer nicht im Augen¬ blick hilft, scheint mir nie zu helfen, wer nicht im Augenblicke Rath giebt, nie zu ra¬ then. Eben so nöthig scheint es mir gewisse Gesetze auszusprechen, und den Kindern ein¬ zuschärfen, die dem Leben einen gewissen Halt geben. Ja, ich möchte beynah behaup¬ ten: es sey besser nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willkühr unserer Natur hin und her treibt, und wie ich die
Haben Sie denn, fragte Wilhelm, bey der Erziehung Ihrer kleinen weiblichen Welt, auch die Grundſätze jener ſonderbaren Män¬ ner angenommen? laſſen Sie denn auch jede Natur ſich ſelbſt ausbilden? laſſen Sie denn auch die Ihrigen ſuchen und irren, Mißgriffe thun, ſich glücklich am Ziel finden, oder un¬ glücklich in die Irre verliehren?
Nein! ſagte Natalie, dieſe Art mit Men¬ ſchen zu handeln würde ganz gegen meine Geſinnungen ſeyn. Wer nicht im Augen¬ blick hilft, ſcheint mir nie zu helfen, wer nicht im Augenblicke Rath giebt, nie zu ra¬ then. Eben ſo nöthig ſcheint es mir gewiſſe Geſetze auszuſprechen, und den Kindern ein¬ zuſchärfen, die dem Leben einen gewiſſen Halt geben. Ja, ich möchte beynah behaup¬ ten: es ſey beſſer nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willkühr unſerer Natur hin und her treibt, und wie ich die
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Haben Sie denn, fragte Wilhelm, bey
der Erziehung Ihrer kleinen weiblichen Welt,
auch die Grundſätze jener ſonderbaren Män¬
ner angenommen? laſſen Sie denn auch jede
Natur ſich ſelbſt ausbilden? laſſen Sie denn
auch die Ihrigen ſuchen und irren, Mißgriffe
thun, ſich glücklich am Ziel finden, oder un¬
glücklich in die Irre verliehren?
Nein! ſagte Natalie, dieſe Art mit Men¬
ſchen zu handeln würde ganz gegen meine
Geſinnungen ſeyn. Wer nicht im Augen¬
blick hilft, ſcheint mir nie zu helfen, wer
nicht im Augenblicke Rath giebt, nie zu ra¬
then. Eben ſo nöthig ſcheint es mir gewiſſe
Geſetze auszuſprechen, und den Kindern ein¬
zuſchärfen, die dem Leben einen gewiſſen
Halt geben. Ja, ich möchte beynah behaup¬
ten: es ſey beſſer nach Regeln zu irren, als
zu irren, wenn uns die Willkühr unſerer
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/294>, abgerufen am 22.11.2024.
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