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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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einer tiefen Sehnsucht; das Verlangen, ihr
Vaterland wieder zu sehen, und das Ver¬
langen nach Ihnen, mein Freund, ist, möchte
ich fast sagen, das einzige Irrdische an ihr,
beydes greift nur in eine unendliche Ferne,
beyde Gegenstände liegen unerreichbar vor
diesem einzigen Gemüth. Sie mag in der
Gegend von Mailand zu Hause seyn, und
ist in sehr früher Jugend, durch eine Gesell¬
schaft Seiltänzer, ihren Eltern entführt wor¬
den. Näheres kann man von ihr nicht er¬
fahren, theils weil sie zu jung war, um Ort
und Nahmen genau angeben zu können, be¬
sonders aber, weil sie einen Schwur gethan
hat, keinem lebendigen Menschen ihre Woh¬
nung und Herkunft näher zu bezeichnen.
Denn eben jene Leute, die sie in der Irre
fanden, und denen sie ihre Wohnung so ge¬
nau beschrieb, mit so dringenden Bitten sie
nach Hause zu führen, nahmen sie nur desto

einer tiefen Sehnſucht; das Verlangen, ihr
Vaterland wieder zu ſehen, und das Ver¬
langen nach Ihnen, mein Freund, iſt, möchte
ich faſt ſagen, das einzige Irrdiſche an ihr,
beydes greift nur in eine unendliche Ferne,
beyde Gegenſtände liegen unerreichbar vor
dieſem einzigen Gemüth. Sie mag in der
Gegend von Mailand zu Hauſe ſeyn, und
iſt in ſehr früher Jugend, durch eine Geſell¬
ſchaft Seiltänzer, ihren Eltern entführt wor¬
den. Näheres kann man von ihr nicht er¬
fahren, theils weil ſie zu jung war, um Ort
und Nahmen genau angeben zu können, be¬
ſonders aber, weil ſie einen Schwur gethan
hat, keinem lebendigen Menſchen ihre Woh¬
nung und Herkunft näher zu bezeichnen.
Denn eben jene Leute, die ſie in der Irre
fanden, und denen ſie ihre Wohnung ſo ge¬
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nach Hauſe zu führen, nahmen ſie nur deſto

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[276/0280] einer tiefen Sehnſucht; das Verlangen, ihr Vaterland wieder zu ſehen, und das Ver¬ langen nach Ihnen, mein Freund, iſt, möchte ich faſt ſagen, das einzige Irrdiſche an ihr, beydes greift nur in eine unendliche Ferne, beyde Gegenſtände liegen unerreichbar vor dieſem einzigen Gemüth. Sie mag in der Gegend von Mailand zu Hauſe ſeyn, und iſt in ſehr früher Jugend, durch eine Geſell¬ ſchaft Seiltänzer, ihren Eltern entführt wor¬ den. Näheres kann man von ihr nicht er¬ fahren, theils weil ſie zu jung war, um Ort und Nahmen genau angeben zu können, be¬ ſonders aber, weil ſie einen Schwur gethan hat, keinem lebendigen Menſchen ihre Woh¬ nung und Herkunft näher zu bezeichnen. Denn eben jene Leute, die ſie in der Irre fanden, und denen ſie ihre Wohnung ſo ge¬ nau beſchrieb, mit ſo dringenden Bitten ſie nach Hauſe zu führen, nahmen ſie nur deſto

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/280>, abgerufen am 22.11.2024.