sal! wäre es möglich, daß dieser beste Theil von mir selbst vor mir zerstöhrt, daß dieses Herz von meinem Herzen gerissen werden könnte, so lebe wohl Verstand und Ver¬ nunft, lebe wohl jede Sorgfalt und Vorsicht, verschwinde du Trieb zur Erhaltung! alles, was uns vom Thier unterscheidet, verliehre sich! und wenn es nicht erlaubt ist, seine traurigen Tage freywillig zu endigen, so hebe ein frühzeitiger Wahnsinn das Bewußt¬ seyn auf, ehe der Tod, der es auf immer zerstöhrt, die lange Nacht herbeyführt.
Er faßte den Knaben in seine Arme, küßte ihn, drückte ihn an sich und benetzte ihn mit reichlichen Thränen. Das Kind wachte auf; sein helles Auge, sein freund¬ licher Blick rührten den Vater aufs innigste. Welche Scene steht mir bevor, rief er aus, wenn ich Dich der schönen unglücklichen Grä¬ fin vorstellen soll, wenn sie Dich an ihren
ſal! wäre es möglich, daß dieſer beſte Theil von mir ſelbſt vor mir zerſtöhrt, daß dieſes Herz von meinem Herzen geriſſen werden könnte, ſo lebe wohl Verſtand und Ver¬ nunft, lebe wohl jede Sorgfalt und Vorſicht, verſchwinde du Trieb zur Erhaltung! alles, was uns vom Thier unterſcheidet, verliehre ſich! und wenn es nicht erlaubt iſt, ſeine traurigen Tage freywillig zu endigen, ſo hebe ein frühzeitiger Wahnſinn das Bewußt¬ ſeyn auf, ehe der Tod, der es auf immer zerſtöhrt, die lange Nacht herbeyführt.
Er faßte den Knaben in ſeine Arme, küßte ihn, drückte ihn an ſich und benetzte ihn mit reichlichen Thränen. Das Kind wachte auf; ſein helles Auge, ſein freund¬ licher Blick rührten den Vater aufs innigſte. Welche Scene ſteht mir bevor, rief er aus, wenn ich Dich der ſchönen unglücklichen Grä¬ fin vorſtellen ſoll, wenn ſie Dich an ihren
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0248"n="244"/>ſal! wäre es möglich, daß dieſer beſte Theil<lb/>
von mir ſelbſt vor mir zerſtöhrt, daß dieſes<lb/>
Herz von meinem Herzen geriſſen werden<lb/>
könnte, ſo lebe wohl Verſtand und Ver¬<lb/>
nunft, lebe wohl jede Sorgfalt und Vorſicht,<lb/>
verſchwinde du Trieb zur Erhaltung! alles,<lb/>
was uns vom Thier unterſcheidet, verliehre<lb/>ſich! und wenn es nicht erlaubt iſt, ſeine<lb/>
traurigen Tage freywillig zu endigen, ſo<lb/>
hebe ein frühzeitiger Wahnſinn das Bewußt¬<lb/>ſeyn auf, ehe der Tod, der es auf immer<lb/>
zerſtöhrt, die lange Nacht herbeyführt.</p><lb/><p>Er faßte den Knaben in ſeine Arme,<lb/>
küßte ihn, drückte ihn an ſich und benetzte<lb/>
ihn mit reichlichen Thränen. Das Kind<lb/>
wachte auf; ſein helles Auge, ſein freund¬<lb/>
licher Blick rührten den Vater aufs innigſte.<lb/>
Welche Scene ſteht mir bevor, rief er aus,<lb/>
wenn ich Dich der ſchönen unglücklichen Grä¬<lb/>
fin vorſtellen ſoll, wenn ſie Dich an ihren<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[244/0248]
ſal! wäre es möglich, daß dieſer beſte Theil
von mir ſelbſt vor mir zerſtöhrt, daß dieſes
Herz von meinem Herzen geriſſen werden
könnte, ſo lebe wohl Verſtand und Ver¬
nunft, lebe wohl jede Sorgfalt und Vorſicht,
verſchwinde du Trieb zur Erhaltung! alles,
was uns vom Thier unterſcheidet, verliehre
ſich! und wenn es nicht erlaubt iſt, ſeine
traurigen Tage freywillig zu endigen, ſo
hebe ein frühzeitiger Wahnſinn das Bewußt¬
ſeyn auf, ehe der Tod, der es auf immer
zerſtöhrt, die lange Nacht herbeyführt.
Er faßte den Knaben in ſeine Arme,
küßte ihn, drückte ihn an ſich und benetzte
ihn mit reichlichen Thränen. Das Kind
wachte auf; ſein helles Auge, ſein freund¬
licher Blick rührten den Vater aufs innigſte.
Welche Scene ſteht mir bevor, rief er aus,
wenn ich Dich der ſchönen unglücklichen Grä¬
fin vorſtellen ſoll, wenn ſie Dich an ihren
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/248>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.