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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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ten ihn eben nicht geschont, und wenn er
gleich das Pergament mit einiger Hast auf¬
rollte, so ward er doch immer ruhiger, je
weiter er las. Er fand die umständliche Ge¬
schichte seines Lebens in großen scharfen Zü¬
gen geschildert, weder einzelne Begebenhei¬
ten, noch beschränkte Empfindungen verwirr¬
ten seinen Blick, allgemeine liebevolle Be¬
trachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne
ihn zu beschämen, und er sah zum ersten¬
mal sein Bild außer sich, zwar nicht, wie im
Spiegel, ein zweytes Selbst, sondern wie im
Portrait, ein anderes Selbst; man bekennt
sich zwar nicht zu allen Zügen, aber man
freut sich, daß ein denkender Geist uns so
hat fassen, ein großes Talent uns so hat
darstellen wollen, daß ein Bild von dem,
was wir waren, noch besteht, und daß es
länger als wir selbst dauren kann.

Wilhelm beschäftigte sich nunmehr, indem

ten ihn eben nicht geſchont, und wenn er
gleich das Pergament mit einiger Haſt auf¬
rollte, ſo ward er doch immer ruhiger, je
weiter er las. Er fand die umſtändliche Ge¬
ſchichte ſeines Lebens in großen ſcharfen Zü¬
gen geſchildert, weder einzelne Begebenhei¬
ten, noch beſchränkte Empfindungen verwirr¬
ten ſeinen Blick, allgemeine liebevolle Be¬
trachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne
ihn zu beſchämen, und er ſah zum erſten¬
mal ſein Bild außer ſich, zwar nicht, wie im
Spiegel, ein zweytes Selbſt, ſondern wie im
Portrait, ein anderes Selbſt; man bekennt
ſich zwar nicht zu allen Zügen, aber man
freut ſich, daß ein denkender Geiſt uns ſo
hat faſſen, ein großes Talent uns ſo hat
darſtellen wollen, daß ein Bild von dem,
was wir waren, noch beſteht, und daß es
länger als wir ſelbſt dauren kann.

Wilhelm beſchäftigte ſich nunmehr, indem

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[232/0236] ten ihn eben nicht geſchont, und wenn er gleich das Pergament mit einiger Haſt auf¬ rollte, ſo ward er doch immer ruhiger, je weiter er las. Er fand die umſtändliche Ge¬ ſchichte ſeines Lebens in großen ſcharfen Zü¬ gen geſchildert, weder einzelne Begebenhei¬ ten, noch beſchränkte Empfindungen verwirr¬ ten ſeinen Blick, allgemeine liebevolle Be¬ trachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beſchämen, und er ſah zum erſten¬ mal ſein Bild außer ſich, zwar nicht, wie im Spiegel, ein zweytes Selbſt, ſondern wie im Portrait, ein anderes Selbſt; man bekennt ſich zwar nicht zu allen Zügen, aber man freut ſich, daß ein denkender Geiſt uns ſo hat faſſen, ein großes Talent uns ſo hat darſtellen wollen, daß ein Bild von dem, was wir waren, noch beſteht, und daß es länger als wir ſelbſt dauren kann. Wilhelm beſchäftigte ſich nunmehr, indem

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/236>, abgerufen am 23.11.2024.