er fing nun an, seine eigene Geschichte durch¬ zudenken, sie schien ihm an Begebenheiten so leer und im Ganzen jedes Bekänntniß so wenig zu seinem Vortheil, daß er mehr als Einmal von dem Vorsatz abzustehn im Be¬ griff war. Endlich entschloß er sich die Rolle seiner Lehrjahre aus dem Thurme von Jarno zu verlangen; dieser sagte: es ist eben zur rechten Zeit, und Wilhelm erhielt sie.
Es ist eine schauderhafte Empfindung, wenn ein edler Mensch, mit Bewußtseyn, auf dem Puncte steht, wo er über sich selbst aufgeklärt werden soll. Alle Übergänge sind Crisen, und ist eine Crise nicht Krankheit? Wie ungern tritt man nach einer Krankheit vor den Spiegel! Die Besserung fühlt man, und man sieht nur die Wirkung des vergan¬ genen Übels. Wilhelm war indessen vorbe¬ reitet genug, die Umstände hatten schon leb¬ haft zu ihm gesprochen, seine Freunde hat¬
er fing nun an, ſeine eigene Geſchichte durch¬ zudenken, ſie ſchien ihm an Begebenheiten ſo leer und im Ganzen jedes Bekänntniß ſo wenig zu ſeinem Vortheil, daß er mehr als Einmal von dem Vorſatz abzuſtehn im Be¬ griff war. Endlich entſchloß er ſich die Rolle ſeiner Lehrjahre aus dem Thurme von Jarno zu verlangen; dieſer ſagte: es iſt eben zur rechten Zeit, und Wilhelm erhielt ſie.
Es iſt eine ſchauderhafte Empfindung, wenn ein edler Menſch, mit Bewußtſeyn, auf dem Puncte ſteht, wo er über ſich ſelbſt aufgeklärt werden ſoll. Alle Übergänge ſind Criſen, und iſt eine Criſe nicht Krankheit? Wie ungern tritt man nach einer Krankheit vor den Spiegel! Die Beſſerung fühlt man, und man ſieht nur die Wirkung des vergan¬ genen Übels. Wilhelm war indeſſen vorbe¬ reitet genug, die Umſtände hatten ſchon leb¬ haft zu ihm geſprochen, ſeine Freunde hat¬
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er fing nun an, ſeine eigene Geſchichte durch¬
zudenken, ſie ſchien ihm an Begebenheiten
ſo leer und im Ganzen jedes Bekänntniß ſo
wenig zu ſeinem Vortheil, daß er mehr als
Einmal von dem Vorſatz abzuſtehn im Be¬
griff war. Endlich entſchloß er ſich die Rolle
ſeiner Lehrjahre aus dem Thurme von Jarno
zu verlangen; dieſer ſagte: es iſt eben zur
rechten Zeit, und Wilhelm erhielt ſie.
Es iſt eine ſchauderhafte Empfindung,
wenn ein edler Menſch, mit Bewußtſeyn,
auf dem Puncte ſteht, wo er über ſich ſelbſt
aufgeklärt werden ſoll. Alle Übergänge ſind
Criſen, und iſt eine Criſe nicht Krankheit?
Wie ungern tritt man nach einer Krankheit
vor den Spiegel! Die Beſſerung fühlt man,
und man ſieht nur die Wirkung des vergan¬
genen Übels. Wilhelm war indeſſen vorbe¬
reitet genug, die Umſtände hatten ſchon leb¬
haft zu ihm geſprochen, ſeine Freunde hat¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/235>, abgerufen am 23.11.2024.
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