zu erdulden! o! rief sie manchmal, hättest du meiner Jugend, meiner Unschuld nur noch vier Wochen geschont, so hätte ich einen würdigen Gegenstand meiner Liebe gefunden, ich wäre seiner würdig gewesen, und die Liebe hätte das mit einem ruhigen Bewußt¬ seyn geben dürfen, was ich jetzt wider Wil¬ len verkauft habe. Sie überließ sich ganz ihrer Neigung, und ich darf nicht fragen, ob sie glücklich waren? Ich hatte eine un¬ eingeschränkte Gewalt über ihren Verstand, denn ich kannte alle Mittel ihre kleinen Nei¬ gungen zu befriedigen; ich hatte keine Macht über ihr Herz, denn niemals billigte sie, was ich für sie that, wozu ich sie bewegte, wenn ihr Herz widersprach, nur der unbezwing¬ lichen Noth gab sie nach, und die Noth er¬ schien ihr bald sehr drückend. In den ersten Zeiten ihrer Jugend hatte es ihr an nichts gemangelt, ihre Familie verlohr durch eine
zu erdulden! o! rief ſie manchmal, hätteſt du meiner Jugend, meiner Unſchuld nur noch vier Wochen geſchont, ſo hätte ich einen würdigen Gegenſtand meiner Liebe gefunden, ich wäre ſeiner würdig geweſen, und die Liebe hätte das mit einem ruhigen Bewußt¬ ſeyn geben dürfen, was ich jetzt wider Wil¬ len verkauft habe. Sie überließ ſich ganz ihrer Neigung, und ich darf nicht fragen, ob ſie glücklich waren? Ich hatte eine un¬ eingeſchränkte Gewalt über ihren Verſtand, denn ich kannte alle Mittel ihre kleinen Nei¬ gungen zu befriedigen; ich hatte keine Macht über ihr Herz, denn niemals billigte ſie, was ich für ſie that, wozu ich ſie bewegte, wenn ihr Herz widerſprach, nur der unbezwing¬ lichen Noth gab ſie nach, und die Noth er¬ ſchien ihr bald ſehr drückend. In den erſten Zeiten ihrer Jugend hatte es ihr an nichts gemangelt, ihre Familie verlohr durch eine
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zu erdulden! o! rief ſie manchmal, hätteſt
du meiner Jugend, meiner Unſchuld nur noch
vier Wochen geſchont, ſo hätte ich einen
würdigen Gegenſtand meiner Liebe gefunden,
ich wäre ſeiner würdig geweſen, und die
Liebe hätte das mit einem ruhigen Bewußt¬
ſeyn geben dürfen, was ich jetzt wider Wil¬
len verkauft habe. Sie überließ ſich ganz
ihrer Neigung, und ich darf nicht fragen,
ob ſie glücklich waren? Ich hatte eine un¬
eingeſchränkte Gewalt über ihren Verſtand,
denn ich kannte alle Mittel ihre kleinen Nei¬
gungen zu befriedigen; ich hatte keine Macht
über ihr Herz, denn niemals billigte ſie, was
ich für ſie that, wozu ich ſie bewegte, wenn
ihr Herz widerſprach, nur der unbezwing¬
lichen Noth gab ſie nach, und die Noth er¬
ſchien ihr bald ſehr drückend. In den erſten
Zeiten ihrer Jugend hatte es ihr an nichts
gemangelt, ihre Familie verlohr durch eine
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/160>, abgerufen am 23.11.2024.
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