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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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chen, das seiner Mutter vollkommen glich,
war uns nachgefolgt, und so stand ich in
der sonderbarsten Gegenwart, zwischen der
Vergangenheit und Zukunft, wie in einem
Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk
Blüthen und Früchte stufenweis neben ein¬
ander leben. Die Muhme ging hinaus, ei¬
nige Erfrischung zu holen, ich gab dem ehe¬
mals so geliebten Geschöpfe die Hand, und
sagte zu ihr: ich habe eine rechte Freude,
Sie wieder zu sehen. -- Sie sind sehr gut,
mir das zu sagen, versetzte sie; aber auch
ich kann Ihnen versichern, daß ich eine un¬
aussprechliche Freude habe. Wie oft habe
ich mir gewünscht, Sie nur noch Einmal in
meinem Leben wieder zu sehen, ich habe es
in Augenblicken gewünscht, die ich für meine
letzten hielt; sie sagte das mit einer gesetzten
Stimme, ohne Rührung, mit jener Natür¬
lichkeit, die mich ehemals so sehr an ihr ent¬

chen, das ſeiner Mutter vollkommen glich,
war uns nachgefolgt, und ſo ſtand ich in
der ſonderbarſten Gegenwart, zwiſchen der
Vergangenheit und Zukunft, wie in einem
Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk
Blüthen und Früchte ſtufenweis neben ein¬
ander leben. Die Muhme ging hinaus, ei¬
nige Erfriſchung zu holen, ich gab dem ehe¬
mals ſo geliebten Geſchöpfe die Hand, und
ſagte zu ihr: ich habe eine rechte Freude,
Sie wieder zu ſehen. — Sie ſind ſehr gut,
mir das zu ſagen, verſetzte ſie; aber auch
ich kann Ihnen verſichern, daß ich eine un¬
ausſprechliche Freude habe. Wie oft habe
ich mir gewünſcht, Sie nur noch Einmal in
meinem Leben wieder zu ſehen, ich habe es
in Augenblicken gewünſcht, die ich für meine
letzten hielt; ſie ſagte das mit einer geſetzten
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[139/0143] chen, das ſeiner Mutter vollkommen glich, war uns nachgefolgt, und ſo ſtand ich in der ſonderbarſten Gegenwart, zwiſchen der Vergangenheit und Zukunft, wie in einem Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk Blüthen und Früchte ſtufenweis neben ein¬ ander leben. Die Muhme ging hinaus, ei¬ nige Erfriſchung zu holen, ich gab dem ehe¬ mals ſo geliebten Geſchöpfe die Hand, und ſagte zu ihr: ich habe eine rechte Freude, Sie wieder zu ſehen. — Sie ſind ſehr gut, mir das zu ſagen, verſetzte ſie; aber auch ich kann Ihnen verſichern, daß ich eine un¬ ausſprechliche Freude habe. Wie oft habe ich mir gewünſcht, Sie nur noch Einmal in meinem Leben wieder zu ſehen, ich habe es in Augenblicken gewünſcht, die ich für meine letzten hielt; ſie ſagte das mit einer geſetzten Stimme, ohne Rührung, mit jener Natür¬ lichkeit, die mich ehemals ſo ſehr an ihr ent¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/143>, abgerufen am 24.11.2024.