gen und Handlungen auf eine sonderbare Weise von ihrer natürlichen und guten Rich¬ tung abgelenkt werden; aber gewisse Pflich¬ ten sollten wir niemals aus den Augen setzen. Die Asche der Freundin ruhe sanft, wir wol¬ len, ohne uns zu schelten und sie zu tadeln, mitleidig Blumen auf ihr Grab streuen. Aber bey dem Grabe, in welchem die unglückliche Mutter ruht, lassen Sie mich fragen, war¬ um sie sich des Kindes nicht annehmen? ei¬ nes Sohnes, dessen sich jedermann erfreuen würde, und den sie ganz und gar zu ver¬ nachläßigen scheinen. Wie können Sie, bey Ihren reinen und zarten Gefühlen, das Herz eines Vaters gänzlich verleugnen? Sie ha¬ ben diese ganze Zeit noch mit keiner Sylbe an das köstliche Geschöpf gedacht, von des¬ sen Anmuth so viel zu erzählen wäre.
Von wem reden Sie? versetzte Lothario, ich verstehe Sie nicht.
gen und Handlungen auf eine ſonderbare Weiſe von ihrer natürlichen und guten Rich¬ tung abgelenkt werden; aber gewiſſe Pflich¬ ten ſollten wir niemals aus den Augen ſetzen. Die Aſche der Freundin ruhe ſanft, wir wol¬ len, ohne uns zu ſchelten und ſie zu tadeln, mitleidig Blumen auf ihr Grab ſtreuen. Aber bey dem Grabe, in welchem die unglückliche Mutter ruht, laſſen Sie mich fragen, war¬ um ſie ſich des Kindes nicht annehmen? ei¬ nes Sohnes, deſſen ſich jedermann erfreuen würde, und den ſie ganz und gar zu ver¬ nachläßigen ſcheinen. Wie können Sie, bey Ihren reinen und zarten Gefühlen, das Herz eines Vaters gänzlich verleugnen? Sie ha¬ ben dieſe ganze Zeit noch mit keiner Sylbe an das köſtliche Geſchöpf gedacht, von deſ¬ ſen Anmuth ſo viel zu erzählen wäre.
Von wem reden Sie? verſetzte Lothario, ich verſtehe Sie nicht.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0136"n="132"/>
gen und Handlungen auf eine ſonderbare<lb/>
Weiſe von ihrer natürlichen und guten Rich¬<lb/>
tung abgelenkt werden; aber gewiſſe Pflich¬<lb/>
ten ſollten wir niemals aus den Augen ſetzen.<lb/>
Die Aſche der Freundin ruhe ſanft, wir wol¬<lb/>
len, ohne uns zu ſchelten und ſie zu tadeln,<lb/>
mitleidig Blumen auf ihr Grab ſtreuen. Aber<lb/>
bey dem Grabe, in welchem die unglückliche<lb/>
Mutter ruht, laſſen Sie mich fragen, war¬<lb/>
um ſie ſich des Kindes nicht annehmen? ei¬<lb/>
nes Sohnes, deſſen ſich jedermann erfreuen<lb/>
würde, und den ſie ganz und gar zu ver¬<lb/>
nachläßigen ſcheinen. Wie können Sie, bey<lb/>
Ihren reinen und zarten Gefühlen, das Herz<lb/>
eines Vaters gänzlich verleugnen? Sie ha¬<lb/>
ben dieſe ganze Zeit noch mit keiner Sylbe<lb/>
an das köſtliche Geſchöpf gedacht, von deſ¬<lb/>ſen Anmuth ſo viel zu erzählen wäre.</p><lb/><p>Von wem reden Sie? verſetzte Lothario,<lb/>
ich verſtehe Sie nicht.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[132/0136]
gen und Handlungen auf eine ſonderbare
Weiſe von ihrer natürlichen und guten Rich¬
tung abgelenkt werden; aber gewiſſe Pflich¬
ten ſollten wir niemals aus den Augen ſetzen.
Die Aſche der Freundin ruhe ſanft, wir wol¬
len, ohne uns zu ſchelten und ſie zu tadeln,
mitleidig Blumen auf ihr Grab ſtreuen. Aber
bey dem Grabe, in welchem die unglückliche
Mutter ruht, laſſen Sie mich fragen, war¬
um ſie ſich des Kindes nicht annehmen? ei¬
nes Sohnes, deſſen ſich jedermann erfreuen
würde, und den ſie ganz und gar zu ver¬
nachläßigen ſcheinen. Wie können Sie, bey
Ihren reinen und zarten Gefühlen, das Herz
eines Vaters gänzlich verleugnen? Sie ha¬
ben dieſe ganze Zeit noch mit keiner Sylbe
an das köſtliche Geſchöpf gedacht, von deſ¬
ſen Anmuth ſo viel zu erzählen wäre.
Von wem reden Sie? verſetzte Lothario,
ich verſtehe Sie nicht.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/136>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.