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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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gebildet zu haben schien. Therese blieb in
dem reinen Kreise ihrer Beschäftigung und
ihrer Pflicht, man erfuhr, daß Lydie sich
heimlich in der Nachbarschaft aufgehalten
habe, sie war glücklich, als die Heirath, ob¬
gleich aus unbekannten Ursachen, nicht voll¬
zogen wurde, sie suchte sich Lothario zu nä¬
hern, und es schien, daß er mehr aus Ver¬
zweiflung, als aus Neigung, mehr überrascht,
als mit Überlegung, mehr aus langer Wei¬
le, als aus Vorsatz ihren Wünschen begeg¬
net sey.

Therese war ruhig darüber, sie machte
keine weitern Ansprüche auf ihn, und selbst
wenn er ihr Gatte gewesen wäre, hätte sie
vielleicht Muth genug gehabt, ein solches
Verhältnis zu ertragen, wenn es nur ihre
häusliche Ordnung nicht gestört hätte; we¬
nigstens äußerte sie oft, daß eine Frau, die
das Hauswesen recht zusammenhalte, ihrem

Manne

gebildet zu haben ſchien. Thereſe blieb in
dem reinen Kreiſe ihrer Beſchäftigung und
ihrer Pflicht, man erfuhr, daß Lydie ſich
heimlich in der Nachbarſchaft aufgehalten
habe, ſie war glücklich, als die Heirath, ob¬
gleich aus unbekannten Urſachen, nicht voll¬
zogen wurde, ſie ſuchte ſich Lothario zu nä¬
hern, und es ſchien, daß er mehr aus Ver¬
zweiflung, als aus Neigung, mehr überraſcht,
als mit Überlegung, mehr aus langer Wei¬
le, als aus Vorſatz ihren Wünſchen begeg¬
net ſey.

Thereſe war ruhig darüber, ſie machte
keine weitern Anſprüche auf ihn, und ſelbſt
wenn er ihr Gatte geweſen wäre, hätte ſie
vielleicht Muth genug gehabt, ein ſolches
Verhältnis zu ertragen, wenn es nur ihre
häusliche Ordnung nicht geſtört hätte; we¬
nigſtens äußerte ſie oft, daß eine Frau, die
das Hausweſen recht zuſammenhalte, ihrem

Manne
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[112/0116] gebildet zu haben ſchien. Thereſe blieb in dem reinen Kreiſe ihrer Beſchäftigung und ihrer Pflicht, man erfuhr, daß Lydie ſich heimlich in der Nachbarſchaft aufgehalten habe, ſie war glücklich, als die Heirath, ob¬ gleich aus unbekannten Urſachen, nicht voll¬ zogen wurde, ſie ſuchte ſich Lothario zu nä¬ hern, und es ſchien, daß er mehr aus Ver¬ zweiflung, als aus Neigung, mehr überraſcht, als mit Überlegung, mehr aus langer Wei¬ le, als aus Vorſatz ihren Wünſchen begeg¬ net ſey. Thereſe war ruhig darüber, ſie machte keine weitern Anſprüche auf ihn, und ſelbſt wenn er ihr Gatte geweſen wäre, hätte ſie vielleicht Muth genug gehabt, ein ſolches Verhältnis zu ertragen, wenn es nur ihre häusliche Ordnung nicht geſtört hätte; we¬ nigſtens äußerte ſie oft, daß eine Frau, die das Hausweſen recht zuſammenhalte, ihrem Manne

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/116>, abgerufen am 24.11.2024.