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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Nun denke dir irgend einen Bürger, der
an jene Vorzüge nur einigen Anspruch zu
machen gedachte; durchaus muß es ihm mi߬
lingen, und er müßte nur desto unglücklicher
werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener
Art zu seyn Fähigkeit und Trieb gegeben
hätte.

Wenn der Edelmann im gemeinen Leben
gar keine Gränzen kennt, wenn man aus
ihm Könige oder königähnliche Figuren er¬
schaffen kann; so darf er überall mit einem
stillen Bewußtseyn vor seines gleichen tre¬
ten; er darf überall vorwärts dringen, an¬
statt daß dem Bürger nichts besser ansteht,
als das reine stille Gefühl der Gränzlinie
die ihm gezogen ist. Er darf nicht fragen:
was bist du? sondern nur: was hast du?
Welche Einsicht, welche Kenntniß, welche
Fähigkeit, wieviel Vermögen? Wenn der
Edelmann durch die Darstellung seiner Per¬

Nun denke dir irgend einen Bürger, der
an jene Vorzüge nur einigen Anſpruch zu
machen gedachte; durchaus muß es ihm mi߬
lingen, und er müßte nur deſto unglücklicher
werden, je mehr ſein Naturell ihm zu jener
Art zu ſeyn Fähigkeit und Trieb gegeben
hätte.

Wenn der Edelmann im gemeinen Leben
gar keine Gränzen kennt, wenn man aus
ihm Könige oder königähnliche Figuren er¬
ſchaffen kann; ſo darf er überall mit einem
ſtillen Bewußtſeyn vor ſeines gleichen tre¬
ten; er darf überall vorwärts dringen, an¬
ſtatt daß dem Bürger nichts beſſer anſteht,
als das reine ſtille Gefühl der Gränzlinie
die ihm gezogen iſt. Er darf nicht fragen:
was biſt du? ſondern nur: was haſt du?
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[31/0037] Nun denke dir irgend einen Bürger, der an jene Vorzüge nur einigen Anſpruch zu machen gedachte; durchaus muß es ihm mi߬ lingen, und er müßte nur deſto unglücklicher werden, je mehr ſein Naturell ihm zu jener Art zu ſeyn Fähigkeit und Trieb gegeben hätte. Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Gränzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche Figuren er¬ ſchaffen kann; ſo darf er überall mit einem ſtillen Bewußtſeyn vor ſeines gleichen tre¬ ten; er darf überall vorwärts dringen, an¬ ſtatt daß dem Bürger nichts beſſer anſteht, als das reine ſtille Gefühl der Gränzlinie die ihm gezogen iſt. Er darf nicht fragen: was biſt du? ſondern nur: was haſt du? Welche Einſicht, welche Kenntniß, welche Fähigkeit, wieviel Vermögen? Wenn der Edelmann durch die Darſtellung ſeiner Per¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/37>, abgerufen am 26.11.2024.