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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Nun hatte ich denn wirklich das gewünschte
Schäfchen gefunden, und diese Leidenschaft
hatte wie sonst eine Krankheit die Wirkung
auf mich, daß sie mich still machte und mich
von der schwärmenden Freude zurück zog.
Ich war einsam und gerührt und Gott fiel
mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter,
und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich
für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten
anhielt.

So viel kindisches in dem Vorgang war,
so viel trug er zur Bildung meines Herzens
bey. Unserm französischen Sprachmeister mu߬
ten wir täglich, statt der sonst gewöhnlichen
Übersetzung, Briefe von unsrer eignen Erfin¬
dung schreiben. Ich brachte meine Liebesge¬
schichte unter dem Namen Phyllis und Da¬
mon zu Markte. Der Alte sah bald durch,
und, um mich treuherzig zu machen, lobte er
meine Arbeit gar sehr. Ich wurde immer

Nun hatte ich denn wirklich das gewünſchte
Schäfchen gefunden, und dieſe Leidenſchaft
hatte wie ſonſt eine Krankheit die Wirkung
auf mich, daß ſie mich ſtill machte und mich
von der ſchwärmenden Freude zurück zog.
Ich war einſam und gerührt und Gott fiel
mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter,
und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich
für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten
anhielt.

So viel kindiſches in dem Vorgang war,
ſo viel trug er zur Bildung meines Herzens
bey. Unſerm franzöſiſchen Sprachmeiſter mu߬
ten wir täglich, ſtatt der ſonſt gewöhnlichen
Überſetzung, Briefe von unſrer eignen Erfin¬
dung ſchreiben. Ich brachte meine Liebesge¬
ſchichte unter dem Namen Phyllis und Da¬
mon zu Markte. Der Alte ſah bald durch,
und, um mich treuherzig zu machen, lobte er
meine Arbeit gar ſehr. Ich wurde immer

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[219/0225] Nun hatte ich denn wirklich das gewünſchte Schäfchen gefunden, und dieſe Leidenſchaft hatte wie ſonſt eine Krankheit die Wirkung auf mich, daß ſie mich ſtill machte und mich von der ſchwärmenden Freude zurück zog. Ich war einſam und gerührt und Gott fiel mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter, und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten anhielt. So viel kindiſches in dem Vorgang war, ſo viel trug er zur Bildung meines Herzens bey. Unſerm franzöſiſchen Sprachmeiſter mu߬ ten wir täglich, ſtatt der ſonſt gewöhnlichen Überſetzung, Briefe von unſrer eignen Erfin¬ dung ſchreiben. Ich brachte meine Liebesge¬ ſchichte unter dem Namen Phyllis und Da¬ mon zu Markte. Der Alte ſah bald durch, und, um mich treuherzig zu machen, lobte er meine Arbeit gar ſehr. Ich wurde immer

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/225>, abgerufen am 28.11.2024.