Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

sen die Dinge, aus denen sie gemacht ist?
Wie sehen sie aus? Wie heißen sie? Aber
die Erzählungen meiner Tante waren auch
nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte
mich in schöne Kleider und begegnete den al¬
lerliebsten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬
sten konnten, bis sie wußten, wer die unbe¬
kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬
theuer mit einem reizenden kleinen Engel,
der im weißen Gewand und goldnen Flü¬
geln sich sehr um mich bemühte, setzte ich so
lange fort, daß meine Einbildungskraft sein
Bild fast bis zur Erscheinung erhöhte.

Nach Jahresfrist war ich ziemlich wieder
hergestellt; aber es war mir aus der Kind¬
heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich
konnte nicht einmal mit Puppen spielen, ich
verlangte nach Wesen, die meine Liebe erwie¬
derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬
chen mein Vater von allen Arten ernährte,

ſen die Dinge, aus denen ſie gemacht iſt?
Wie ſehen ſie aus? Wie heißen ſie? Aber
die Erzählungen meiner Tante waren auch
nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte
mich in ſchöne Kleider und begegnete den al¬
lerliebſten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬
ſten konnten, bis ſie wußten, wer die unbe¬
kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬
theuer mit einem reizenden kleinen Engel,
der im weißen Gewand und goldnen Flü¬
geln ſich ſehr um mich bemühte, ſetzte ich ſo
lange fort, daß meine Einbildungskraft ſein
Bild faſt bis zur Erſcheinung erhöhte.

Nach Jahresfriſt war ich ziemlich wieder
hergeſtellt; aber es war mir aus der Kind¬
heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich
konnte nicht einmal mit Puppen ſpielen, ich
verlangte nach Weſen, die meine Liebe erwie¬
derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬
chen mein Vater von allen Arten ernährte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0216" n="210"/>
&#x017F;en die Dinge, aus denen &#x017F;ie gemacht i&#x017F;t?<lb/>
Wie &#x017F;ehen &#x017F;ie aus? Wie heißen &#x017F;ie? Aber<lb/>
die Erzählungen meiner Tante waren auch<lb/>
nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte<lb/>
mich in &#x017F;chöne Kleider und begegnete den al¬<lb/>
lerlieb&#x017F;ten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬<lb/>
&#x017F;ten konnten, bis &#x017F;ie wußten, wer die unbe¬<lb/>
kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬<lb/>
theuer mit einem reizenden kleinen Engel,<lb/>
der im weißen Gewand und goldnen Flü¬<lb/>
geln &#x017F;ich &#x017F;ehr um mich bemühte, &#x017F;etzte ich &#x017F;o<lb/>
lange fort, daß meine Einbildungskraft &#x017F;ein<lb/>
Bild fa&#x017F;t bis zur Er&#x017F;cheinung erhöhte.</p><lb/>
            <p>Nach Jahresfri&#x017F;t war ich ziemlich wieder<lb/>
herge&#x017F;tellt; aber es war mir aus der Kind¬<lb/>
heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich<lb/>
konnte nicht einmal mit Puppen &#x017F;pielen, ich<lb/>
verlangte nach We&#x017F;en, die meine Liebe erwie¬<lb/>
derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬<lb/>
chen mein Vater von allen Arten ernährte,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0216] ſen die Dinge, aus denen ſie gemacht iſt? Wie ſehen ſie aus? Wie heißen ſie? Aber die Erzählungen meiner Tante waren auch nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte mich in ſchöne Kleider und begegnete den al¬ lerliebſten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬ ſten konnten, bis ſie wußten, wer die unbe¬ kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬ theuer mit einem reizenden kleinen Engel, der im weißen Gewand und goldnen Flü¬ geln ſich ſehr um mich bemühte, ſetzte ich ſo lange fort, daß meine Einbildungskraft ſein Bild faſt bis zur Erſcheinung erhöhte. Nach Jahresfriſt war ich ziemlich wieder hergeſtellt; aber es war mir aus der Kind¬ heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich konnte nicht einmal mit Puppen ſpielen, ich verlangte nach Weſen, die meine Liebe erwie¬ derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬ chen mein Vater von allen Arten ernährte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/216
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/216>, abgerufen am 27.11.2024.