Ich werde bey keiner solchen Vorlesung gegenwärtig seyn, sagte sie, denn wie soll ich hören und urtheilen, wenn mir das Herz zerrissen ist. Ich hasse die französische Spra¬ che von ganzer Seele.
Wie kann man einer Sprache feind seyn? rief Wilhelm aus, der man den größten Theil seiner Bildung schuldig ist, und der wir noch viel schuldig werden müssen, ehe unser Wesen eine Gestalt gewinnen kann.
Es ist kein Vorurtheil! versetzte Aurelie, ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Er¬ innerung an meinen treulosen Freund hat mir die Lust an dieser schönen und ausgebil¬ deten Sprache geraubt. Wie ich sie jetzt von ganzem Herzen hasse! Während der Zeit unserer freundschaftlichen Verbindung schrieb er deutsch, und welch ein herzliches, wahres, kräftiges Deutsch! nun da er mich los seyn wollte, fing er an französisch zu
Ich werde bey keiner ſolchen Vorleſung gegenwärtig ſeyn, ſagte ſie, denn wie ſoll ich hören und urtheilen, wenn mir das Herz zerriſſen iſt. Ich haſſe die franzöſiſche Spra¬ che von ganzer Seele.
Wie kann man einer Sprache feind ſeyn? rief Wilhelm aus, der man den größten Theil ſeiner Bildung ſchuldig iſt, und der wir noch viel ſchuldig werden müſſen, ehe unſer Weſen eine Geſtalt gewinnen kann.
Es iſt kein Vorurtheil! verſetzte Aurelie, ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Er¬ innerung an meinen treuloſen Freund hat mir die Luſt an dieſer ſchönen und ausgebil¬ deten Sprache geraubt. Wie ich ſie jetzt von ganzem Herzen haſſe! Während der Zeit unſerer freundſchaftlichen Verbindung ſchrieb er deutſch, und welch ein herzliches, wahres, kräftiges Deutſch! nun da er mich los ſeyn wollte, fing er an franzöſiſch zu
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0171"n="165"/><p>Ich werde bey keiner ſolchen Vorleſung<lb/>
gegenwärtig ſeyn, ſagte ſie, denn wie ſoll<lb/>
ich hören und urtheilen, wenn mir das Herz<lb/>
zerriſſen iſt. Ich haſſe die franzöſiſche Spra¬<lb/>
che von ganzer Seele.</p><lb/><p>Wie kann man einer Sprache feind ſeyn?<lb/>
rief Wilhelm aus, der man den größten<lb/>
Theil ſeiner Bildung ſchuldig iſt, und der<lb/>
wir noch viel ſchuldig werden müſſen, ehe<lb/>
unſer Weſen eine Geſtalt gewinnen kann.</p><lb/><p>Es iſt kein Vorurtheil! verſetzte Aurelie,<lb/>
ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Er¬<lb/>
innerung an meinen treuloſen Freund hat<lb/>
mir die Luſt an dieſer ſchönen und ausgebil¬<lb/>
deten Sprache geraubt. Wie ich ſie jetzt<lb/>
von ganzem Herzen haſſe! Während der<lb/>
Zeit unſerer freundſchaftlichen Verbindung<lb/>ſchrieb er deutſch, und welch ein herzliches,<lb/>
wahres, kräftiges Deutſch! nun da er mich<lb/>
los ſeyn wollte, fing er an franzöſiſch zu<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[165/0171]
Ich werde bey keiner ſolchen Vorleſung
gegenwärtig ſeyn, ſagte ſie, denn wie ſoll
ich hören und urtheilen, wenn mir das Herz
zerriſſen iſt. Ich haſſe die franzöſiſche Spra¬
che von ganzer Seele.
Wie kann man einer Sprache feind ſeyn?
rief Wilhelm aus, der man den größten
Theil ſeiner Bildung ſchuldig iſt, und der
wir noch viel ſchuldig werden müſſen, ehe
unſer Weſen eine Geſtalt gewinnen kann.
Es iſt kein Vorurtheil! verſetzte Aurelie,
ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Er¬
innerung an meinen treuloſen Freund hat
mir die Luſt an dieſer ſchönen und ausgebil¬
deten Sprache geraubt. Wie ich ſie jetzt
von ganzem Herzen haſſe! Während der
Zeit unſerer freundſchaftlichen Verbindung
ſchrieb er deutſch, und welch ein herzliches,
wahres, kräftiges Deutſch! nun da er mich
los ſeyn wollte, fing er an franzöſiſch zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/171>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.