Er nahm darauf einige Stücke durch, las sie mit der größten Aufmerksamkeit, korri¬ girte hier und da, rezitirte sie sich laut vor, um auch in Sprache und Ausdruck recht ge¬ wandt zu seyn, und steckte dasjenige, wel¬ ches er am meisten geübt, womit er die grö߬ te Ehre einzulegen glaubte, in die Tasche, als er an einem Morgen hinüber vor die Gräfin gefordert wurde.
Der Baron hatte ihn versichert, sie wür¬ de allein mit einer guten Freundin seyn. Als er in das Zimmer trat, kam die Baro¬ nesse von C** ihm mit vieler Freundlichkeit entgegen, freute sich seine Bekanntschaft zu machen, und präsentirte ihn der Gräfin, die sich eben frisiren ließ, und ihn mit freundli¬ chen Worten und Blicken empfing; neben deren Stuhl er aber leider Philinen knieen und allerley Thorheiten machen sah. -- Das schöne Kind, sagte die Baronesse, hat uns
Er nahm darauf einige Stücke durch, las ſie mit der größten Aufmerkſamkeit, korri¬ girte hier und da, rezitirte ſie ſich laut vor, um auch in Sprache und Ausdruck recht ge¬ wandt zu ſeyn, und ſteckte dasjenige, wel¬ ches er am meiſten geübt, womit er die grö߬ te Ehre einzulegen glaubte, in die Taſche, als er an einem Morgen hinüber vor die Gräfin gefordert wurde.
Der Baron hatte ihn verſichert, ſie wür¬ de allein mit einer guten Freundin ſeyn. Als er in das Zimmer trat, kam die Baro¬ neſſe von C** ihm mit vieler Freundlichkeit entgegen, freute ſich ſeine Bekanntſchaft zu machen, und präſentirte ihn der Gräfin, die ſich eben friſiren ließ, und ihn mit freundli¬ chen Worten und Blicken empfing; neben deren Stuhl er aber leider Philinen knieen und allerley Thorheiten machen ſah. — Das ſchöne Kind, ſagte die Baroneſſe, hat uns
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0068"n="60"/><p>Er nahm darauf einige Stücke durch, las<lb/>ſie mit der größten Aufmerkſamkeit, korri¬<lb/>
girte hier und da, rezitirte ſie ſich laut vor,<lb/>
um auch in Sprache und Ausdruck recht ge¬<lb/>
wandt zu ſeyn, und ſteckte dasjenige, wel¬<lb/>
ches er am meiſten geübt, womit er die grö߬<lb/>
te Ehre einzulegen glaubte, in die Taſche,<lb/>
als er an einem Morgen hinüber vor die<lb/>
Gräfin gefordert wurde.</p><lb/><p>Der Baron hatte ihn verſichert, ſie wür¬<lb/>
de allein mit einer guten Freundin ſeyn.<lb/>
Als er in das Zimmer trat, kam die Baro¬<lb/>
neſſe von C** ihm mit vieler Freundlichkeit<lb/>
entgegen, freute ſich ſeine Bekanntſchaft zu<lb/>
machen, und präſentirte ihn der Gräfin, die<lb/>ſich eben friſiren ließ, und ihn mit freundli¬<lb/>
chen Worten und Blicken empfing; neben<lb/>
deren Stuhl er aber leider Philinen knieen<lb/>
und allerley Thorheiten machen ſah. — Das<lb/>ſchöne Kind, ſagte die Baroneſſe, hat uns<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[60/0068]
Er nahm darauf einige Stücke durch, las
ſie mit der größten Aufmerkſamkeit, korri¬
girte hier und da, rezitirte ſie ſich laut vor,
um auch in Sprache und Ausdruck recht ge¬
wandt zu ſeyn, und ſteckte dasjenige, wel¬
ches er am meiſten geübt, womit er die grö߬
te Ehre einzulegen glaubte, in die Taſche,
als er an einem Morgen hinüber vor die
Gräfin gefordert wurde.
Der Baron hatte ihn verſichert, ſie wür¬
de allein mit einer guten Freundin ſeyn.
Als er in das Zimmer trat, kam die Baro¬
neſſe von C** ihm mit vieler Freundlichkeit
entgegen, freute ſich ſeine Bekanntſchaft zu
machen, und präſentirte ihn der Gräfin, die
ſich eben friſiren ließ, und ihn mit freundli¬
chen Worten und Blicken empfing; neben
deren Stuhl er aber leider Philinen knieen
und allerley Thorheiten machen ſah. — Das
ſchöne Kind, ſagte die Baroneſſe, hat uns
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/68>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.