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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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theils nach ihrer Art die wunderlichsten Fra¬
gen zu thun. Man konnte auch hier wieder
bemerken, daß bey einer großen Anstrengung
sie nur schwer und mühsam begriff. So war
auch ihre Handschrift, mit der sie sich viele
Mühe gab. Sie sprach noch immer sehr ge¬
brochen deutsch, und nur wenn sie den Mund
zum Singen aufthat, wenn sie die Zither
rührte, schien sie sich des einzigen Organs zu
bedienen, wodurch sie ihr Innerstes aufschlies¬
sen und mittheilen konnte.

Wir müssen, da wir gegenwärtig von ihr
sprechen, auch der Verlegenheit gedenken, in
die sie seit einiger Zeit unsern Freund öfters
versetzte. Wenn sie kam oder ging, guten
Morgen, oder gute Nacht sagte, schloß sie
ihn so fest in ihre Arme, und küßte ihn mit
solcher Inbrunst, daß ihn die Heftigkeit die¬
ser aufkeimenden Natur oft angst und bange
machte. Die zuckende Lebhaftigkeit schien sich

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theils nach ihrer Art die wunderlichſten Fra¬
gen zu thun. Man konnte auch hier wieder
bemerken, daß bey einer großen Anſtrengung
ſie nur ſchwer und mühſam begriff. So war
auch ihre Handſchrift, mit der ſie ſich viele
Mühe gab. Sie ſprach noch immer ſehr ge¬
brochen deutſch, und nur wenn ſie den Mund
zum Singen aufthat, wenn ſie die Zither
rührte, ſchien ſie ſich des einzigen Organs zu
bedienen, wodurch ſie ihr Innerſtes aufſchlieſ¬
ſen und mittheilen konnte.

Wir müſſen, da wir gegenwärtig von ihr
ſprechen, auch der Verlegenheit gedenken, in
die ſie ſeit einiger Zeit unſern Freund öfters
verſetzte. Wenn ſie kam oder ging, guten
Morgen, oder gute Nacht ſagte, ſchloß ſie
ihn ſo feſt in ihre Arme, und küßte ihn mit
ſolcher Inbrunſt, daß ihn die Heftigkeit die¬
ſer aufkeimenden Natur oft angſt und bange
machte. Die zuckende Lebhaftigkeit ſchien ſich

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[323/0332] theils nach ihrer Art die wunderlichſten Fra¬ gen zu thun. Man konnte auch hier wieder bemerken, daß bey einer großen Anſtrengung ſie nur ſchwer und mühſam begriff. So war auch ihre Handſchrift, mit der ſie ſich viele Mühe gab. Sie ſprach noch immer ſehr ge¬ brochen deutſch, und nur wenn ſie den Mund zum Singen aufthat, wenn ſie die Zither rührte, ſchien ſie ſich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch ſie ihr Innerſtes aufſchlieſ¬ ſen und mittheilen konnte. Wir müſſen, da wir gegenwärtig von ihr ſprechen, auch der Verlegenheit gedenken, in die ſie ſeit einiger Zeit unſern Freund öfters verſetzte. Wenn ſie kam oder ging, guten Morgen, oder gute Nacht ſagte, ſchloß ſie ihn ſo feſt in ihre Arme, und küßte ihn mit ſolcher Inbrunſt, daß ihn die Heftigkeit die¬ ſer aufkeimenden Natur oft angſt und bange machte. Die zuckende Lebhaftigkeit ſchien ſich X 2

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/332>, abgerufen am 24.11.2024.