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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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stützte sich auf ihre Hand, und sah unsern
Freund an, der mit der größten Versiche¬
rung, daß er Recht habe, also zu reden fort¬
fuhr: es gefällt uns so wohl, es schmeichelt
so sehr, wenn wir einen Helden sehen, der
durch sich selbst handelt, der liebt und haßt,
wenn es ihm sein Herz gebietet, der unter¬
nimmt und ausführt, alle Hindernisse abwen¬
det und zu einem großen Zwecke gelangt.
Geschichtsschreiber und Dichter möchten uns
gerne überreden, daß ein so stolzes Loos dem
Menschen fallen könne. Hier werden wir
anders belehrt; der Held hat keinen Plan,
aber das Stück ist planvoll. Hier wird nicht
etwa durch eine starr und eigensinnig durch¬
geführte Idee von Rache ein Bösewicht be¬
straft, nein es geschieht eine ungeheure That,
sie wälzt sich in ihren Folgen fort, reißt Un¬
schuldige mit; der Verbrecher scheint dem
Abgrunde, der ihm bestimmt ist, ausweichen

ſtützte ſich auf ihre Hand, und ſah unſern
Freund an, der mit der größten Verſiche¬
rung, daß er Recht habe, alſo zu reden fort¬
fuhr: es gefällt uns ſo wohl, es ſchmeichelt
ſo ſehr, wenn wir einen Helden ſehen, der
durch ſich ſelbſt handelt, der liebt und haßt,
wenn es ihm ſein Herz gebietet, der unter¬
nimmt und ausführt, alle Hinderniſſe abwen¬
det und zu einem großen Zwecke gelangt.
Geſchichtsſchreiber und Dichter möchten uns
gerne überreden, daß ein ſo ſtolzes Loos dem
Menſchen fallen könne. Hier werden wir
anders belehrt; der Held hat keinen Plan,
aber das Stück iſt planvoll. Hier wird nicht
etwa durch eine ſtarr und eigenſinnig durch¬
geführte Idee von Rache ein Böſewicht be¬
ſtraft, nein es geſchieht eine ungeheure That,
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[302/0311] ſtützte ſich auf ihre Hand, und ſah unſern Freund an, der mit der größten Verſiche¬ rung, daß er Recht habe, alſo zu reden fort¬ fuhr: es gefällt uns ſo wohl, es ſchmeichelt ſo ſehr, wenn wir einen Helden ſehen, der durch ſich ſelbſt handelt, der liebt und haßt, wenn es ihm ſein Herz gebietet, der unter¬ nimmt und ausführt, alle Hinderniſſe abwen¬ det und zu einem großen Zwecke gelangt. Geſchichtsſchreiber und Dichter möchten uns gerne überreden, daß ein ſo ſtolzes Loos dem Menſchen fallen könne. Hier werden wir anders belehrt; der Held hat keinen Plan, aber das Stück iſt planvoll. Hier wird nicht etwa durch eine ſtarr und eigenſinnig durch¬ geführte Idee von Rache ein Böſewicht be¬ ſtraft, nein es geſchieht eine ungeheure That, ſie wälzt ſich in ihren Folgen fort, reißt Un¬ ſchuldige mit; der Verbrecher ſcheint dem Abgrunde, der ihm beſtimmt iſt, ausweichen

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/311>, abgerufen am 24.11.2024.