genheiten viel traurige Erfahrungen über mein eigen Geschlecht machen, und wahrhaf¬ tig, als Mädchen von sechzehn Jahren war ich klüger als ich jetzt bin, jetzt, da ich mich selbst kaum verstehe. Warum sind wir so klug, wenn wir jung sind, so klug, um im¬ mer thörichter zu werden?
Der Knabe machte Lerm, Aurelie war ungeduldig und klingelte. Ein altes Weib kam herein, ihn wegzuholen. Hast du noch immer Zahnweh? sagte Aurelie zu der Alten, die das Gesicht verbunden hatte. Fast un¬ leidliches, versetzte diese mit dumpfer Stim¬ me, hob den Knaben auf, der gerne mitzu¬ gehen schien, und brachte ihn weg.
Kaum war das Kind bey Seite, als Au¬ relie bitterlich zu weinen anfing. Ich kann nichts als jammern und klagen, rief sie aus, und ich schäme mich, wie ein armer Wurm vor ihnen zu liegen. Meine Besonnenheit
genheiten viel traurige Erfahrungen über mein eigen Geſchlecht machen, und wahrhaf¬ tig, als Mädchen von ſechzehn Jahren war ich klüger als ich jetzt bin, jetzt, da ich mich ſelbſt kaum verſtehe. Warum ſind wir ſo klug, wenn wir jung ſind, ſo klug, um im¬ mer thörichter zu werden?
Der Knabe machte Lerm, Aurelie war ungeduldig und klingelte. Ein altes Weib kam herein, ihn wegzuholen. Haſt du noch immer Zahnweh? ſagte Aurelie zu der Alten, die das Geſicht verbunden hatte. Faſt un¬ leidliches, verſetzte dieſe mit dumpfer Stim¬ me, hob den Knaben auf, der gerne mitzu¬ gehen ſchien, und brachte ihn weg.
Kaum war das Kind bey Seite, als Au¬ relie bitterlich zu weinen anfing. Ich kann nichts als jammern und klagen, rief ſie aus, und ich ſchäme mich, wie ein armer Wurm vor ihnen zu liegen. Meine Beſonnenheit
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0308"n="299"/>
genheiten viel traurige Erfahrungen über<lb/>
mein eigen Geſchlecht machen, und wahrhaf¬<lb/>
tig, als Mädchen von ſechzehn Jahren war<lb/>
ich klüger als ich jetzt bin, jetzt, da ich mich<lb/>ſelbſt kaum verſtehe. Warum ſind wir ſo<lb/>
klug, wenn wir jung ſind, ſo klug, um im¬<lb/>
mer thörichter zu werden?</p><lb/><p>Der Knabe machte Lerm, Aurelie war<lb/>
ungeduldig und klingelte. Ein altes Weib<lb/>
kam herein, ihn wegzuholen. Haſt du noch<lb/>
immer Zahnweh? ſagte Aurelie zu der Alten,<lb/>
die das Geſicht verbunden hatte. Faſt un¬<lb/>
leidliches, verſetzte dieſe mit dumpfer Stim¬<lb/>
me, hob den Knaben auf, der gerne mitzu¬<lb/>
gehen ſchien, und brachte ihn weg.</p><lb/><p>Kaum war das Kind bey Seite, als Au¬<lb/>
relie bitterlich zu weinen anfing. Ich kann<lb/>
nichts als jammern und klagen, rief ſie aus,<lb/>
und ich ſchäme mich, wie ein armer Wurm<lb/>
vor ihnen zu liegen. Meine Beſonnenheit<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[299/0308]
genheiten viel traurige Erfahrungen über
mein eigen Geſchlecht machen, und wahrhaf¬
tig, als Mädchen von ſechzehn Jahren war
ich klüger als ich jetzt bin, jetzt, da ich mich
ſelbſt kaum verſtehe. Warum ſind wir ſo
klug, wenn wir jung ſind, ſo klug, um im¬
mer thörichter zu werden?
Der Knabe machte Lerm, Aurelie war
ungeduldig und klingelte. Ein altes Weib
kam herein, ihn wegzuholen. Haſt du noch
immer Zahnweh? ſagte Aurelie zu der Alten,
die das Geſicht verbunden hatte. Faſt un¬
leidliches, verſetzte dieſe mit dumpfer Stim¬
me, hob den Knaben auf, der gerne mitzu¬
gehen ſchien, und brachte ihn weg.
Kaum war das Kind bey Seite, als Au¬
relie bitterlich zu weinen anfing. Ich kann
nichts als jammern und klagen, rief ſie aus,
und ich ſchäme mich, wie ein armer Wurm
vor ihnen zu liegen. Meine Beſonnenheit
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/308>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.