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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Er sah sie so oft im Lesen an, als wenn
er diesen Eindruck sich auf ewig einprägen
wollte, und las einigemal falsch, ohne dar¬
über in Verwirrung zu gerathen, ob er gleich
sonst über der Verwechselung eines Wortes
oder eines Buchstabens als über einen leidi¬
gen Schandfleck einer ganzen Vorlesung ver¬
zweifeln konnte.

Ein falscher Lerm, als wenn die Gäste
angefahren kämen, machte der Vorlesung ein
Ende. Die Baronesse ging weg, und die
Gräfin, im Begriff ihren Schreibtisch zuzu¬
machen, der noch offen stand, ergriff ein
Ringkästchen und steckte noch einige Ringe
an die Finger. Wir werden uns bald tren¬
nen, sagte sie, indem sie ihre Augen auf das
Kästchen heftete: nehmen Sie ein Andenken
von einer guten Freundin, die nichts lebhaf¬
ter wünscht, als daß es Ihnen wohlgehen
möge. Sie nahm darauf einen Ring her¬

Er ſah ſie ſo oft im Leſen an, als wenn
er dieſen Eindruck ſich auf ewig einprägen
wollte, und las einigemal falſch, ohne dar¬
über in Verwirrung zu gerathen, ob er gleich
ſonſt über der Verwechſelung eines Wortes
oder eines Buchſtabens als über einen leidi¬
gen Schandfleck einer ganzen Vorleſung ver¬
zweifeln konnte.

Ein falſcher Lerm, als wenn die Gäſte
angefahren kämen, machte der Vorleſung ein
Ende. Die Baroneſſe ging weg, und die
Gräfin, im Begriff ihren Schreibtiſch zuzu¬
machen, der noch offen ſtand, ergriff ein
Ringkäſtchen und ſteckte noch einige Ringe
an die Finger. Wir werden uns bald tren¬
nen, ſagte ſie, indem ſie ihre Augen auf das
Käſtchen heftete: nehmen Sie ein Andenken
von einer guten Freundin, die nichts lebhaf¬
ter wünſcht, als daß es Ihnen wohlgehen
möge. Sie nahm darauf einen Ring her¬

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[153/0161] Er ſah ſie ſo oft im Leſen an, als wenn er dieſen Eindruck ſich auf ewig einprägen wollte, und las einigemal falſch, ohne dar¬ über in Verwirrung zu gerathen, ob er gleich ſonſt über der Verwechſelung eines Wortes oder eines Buchſtabens als über einen leidi¬ gen Schandfleck einer ganzen Vorleſung ver¬ zweifeln konnte. Ein falſcher Lerm, als wenn die Gäſte angefahren kämen, machte der Vorleſung ein Ende. Die Baroneſſe ging weg, und die Gräfin, im Begriff ihren Schreibtiſch zuzu¬ machen, der noch offen ſtand, ergriff ein Ringkäſtchen und ſteckte noch einige Ringe an die Finger. Wir werden uns bald tren¬ nen, ſagte ſie, indem ſie ihre Augen auf das Käſtchen heftete: nehmen Sie ein Andenken von einer guten Freundin, die nichts lebhaf¬ ter wünſcht, als daß es Ihnen wohlgehen möge. Sie nahm darauf einen Ring her¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/161>, abgerufen am 24.11.2024.