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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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zulesen wünschte. Er kam und erstaunte im
Hereintreten über die Gestalt, über die An¬
muth der Gräfin, die durch ihren Putz nur
sichtbarer geworden waren. Er las nach
dem Befehle der Damen; allein so zerstreut
und schlecht, daß wenn die Zuhörerinnen
nicht so nachsichtig gewesen wären, sie ihn
gar bald würden entlassen haben.

So oft er die Gräfin anblickte, schien es
ihm, als wenn ein elektrischer Funke sich vor
seinen Augen zeigte; er wußte zuletzt nicht
mehr, wo er Athem zu seiner Recitation her¬
nehmen solle. Die schöne Dame hatte ihm
immer gefallen; aber jetzt schien es ihm, als
ob er nie etwas vollkommneres gesehen hät¬
te, und von den tausenderley Gedanken, die
sich in seiner Seele kreuzten, mochte ohnge¬
fähr folgendes der Inhalt seyn:

Wie thörigt lehnen sich doch so viele
Dichter und sogenannte gefühlvolle Menschen

zuleſen wünſchte. Er kam und erſtaunte im
Hereintreten über die Geſtalt, über die An¬
muth der Gräfin, die durch ihren Putz nur
ſichtbarer geworden waren. Er las nach
dem Befehle der Damen; allein ſo zerſtreut
und ſchlecht, daß wenn die Zuhörerinnen
nicht ſo nachſichtig geweſen wären, ſie ihn
gar bald würden entlaſſen haben.

So oft er die Gräfin anblickte, ſchien es
ihm, als wenn ein elektriſcher Funke ſich vor
ſeinen Augen zeigte; er wußte zuletzt nicht
mehr, wo er Athem zu ſeiner Recitation her¬
nehmen ſolle. Die ſchöne Dame hatte ihm
immer gefallen; aber jetzt ſchien es ihm, als
ob er nie etwas vollkommneres geſehen hät¬
te, und von den tauſenderley Gedanken, die
ſich in ſeiner Seele kreuzten, mochte ohnge¬
fähr folgendes der Inhalt ſeyn:

Wie thörigt lehnen ſich doch ſo viele
Dichter und ſogenannte gefühlvolle Menſchen

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[151/0159] zuleſen wünſchte. Er kam und erſtaunte im Hereintreten über die Geſtalt, über die An¬ muth der Gräfin, die durch ihren Putz nur ſichtbarer geworden waren. Er las nach dem Befehle der Damen; allein ſo zerſtreut und ſchlecht, daß wenn die Zuhörerinnen nicht ſo nachſichtig geweſen wären, ſie ihn gar bald würden entlaſſen haben. So oft er die Gräfin anblickte, ſchien es ihm, als wenn ein elektriſcher Funke ſich vor ſeinen Augen zeigte; er wußte zuletzt nicht mehr, wo er Athem zu ſeiner Recitation her¬ nehmen ſolle. Die ſchöne Dame hatte ihm immer gefallen; aber jetzt ſchien es ihm, als ob er nie etwas vollkommneres geſehen hät¬ te, und von den tauſenderley Gedanken, die ſich in ſeiner Seele kreuzten, mochte ohnge¬ fähr folgendes der Inhalt ſeyn: Wie thörigt lehnen ſich doch ſo viele Dichter und ſogenannte gefühlvolle Menſchen

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/159>, abgerufen am 22.11.2024.