Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite
Neuntes Capitel.

So brachte Wilhelm seine Nächte im Ge¬
nusse vertraulicher Liebe, seine Tage in Er¬
wartung neuer seliger Stunden zu. Schon
zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoff¬
nung zu Marianen hinzog, fühlte er sich
wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer
Mensch zu werden beginne; nun war er mit
ihr vereinigt, die Befriedigung seiner Wün¬
sche ward eine reizende Gewohnheit. Sein
Herz strebte, den Gegenstand seiner Leiden¬
schaft zu veredlen, sein Geist, das geliebte
Mädchen mit sich empor zu heben. In der
kleinsten Abwesenheit ergriff ihn ihr Anden¬
ken. War sie ihm sonst nothwendig gewe¬
sen, so war sie ihm jetzt unentbehrlich, da er
mit allen Banden der Menschheit an sie ge¬

Neuntes Capitel.

So brachte Wilhelm ſeine Nächte im Ge¬
nuſſe vertraulicher Liebe, ſeine Tage in Er¬
wartung neuer ſeliger Stunden zu. Schon
zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoff¬
nung zu Marianen hinzog, fühlte er ſich
wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer
Menſch zu werden beginne; nun war er mit
ihr vereinigt, die Befriedigung ſeiner Wün¬
ſche ward eine reizende Gewohnheit. Sein
Herz ſtrebte, den Gegenſtand ſeiner Leiden¬
ſchaft zu veredlen, ſein Geiſt, das geliebte
Mädchen mit ſich empor zu heben. In der
kleinſten Abweſenheit ergriff ihn ihr Anden¬
ken. War ſie ihm ſonſt nothwendig gewe¬
ſen, ſo war ſie ihm jetzt unentbehrlich, da er
mit allen Banden der Menſchheit an ſie ge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0079" n="71"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#g">Neuntes Capitel</hi>.<lb/></head>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <p><hi rendition="#in">S</hi>o brachte Wilhelm &#x017F;eine Nächte im Ge¬<lb/>
nu&#x017F;&#x017F;e vertraulicher Liebe, &#x017F;eine Tage in Er¬<lb/>
wartung neuer &#x017F;eliger Stunden zu. Schon<lb/>
zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoff¬<lb/>
nung zu Marianen hinzog, fühlte er &#x017F;ich<lb/>
wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer<lb/>
Men&#x017F;ch zu werden beginne; nun war er mit<lb/>
ihr vereinigt, die Befriedigung &#x017F;einer Wün¬<lb/>
&#x017F;che ward eine reizende Gewohnheit. Sein<lb/>
Herz &#x017F;trebte, den Gegen&#x017F;tand &#x017F;einer Leiden¬<lb/>
&#x017F;chaft zu veredlen, &#x017F;ein Gei&#x017F;t, das geliebte<lb/>
Mädchen mit &#x017F;ich empor zu heben. In der<lb/>
klein&#x017F;ten Abwe&#x017F;enheit ergriff ihn ihr Anden¬<lb/>
ken. War &#x017F;ie ihm &#x017F;on&#x017F;t nothwendig gewe¬<lb/>
&#x017F;en, &#x017F;o war &#x017F;ie ihm jetzt unentbehrlich, da er<lb/>
mit allen Banden der Men&#x017F;chheit an &#x017F;ie ge¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0079] Neuntes Capitel. So brachte Wilhelm ſeine Nächte im Ge¬ nuſſe vertraulicher Liebe, ſeine Tage in Er¬ wartung neuer ſeliger Stunden zu. Schon zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoff¬ nung zu Marianen hinzog, fühlte er ſich wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer Menſch zu werden beginne; nun war er mit ihr vereinigt, die Befriedigung ſeiner Wün¬ ſche ward eine reizende Gewohnheit. Sein Herz ſtrebte, den Gegenſtand ſeiner Leiden¬ ſchaft zu veredlen, ſein Geiſt, das geliebte Mädchen mit ſich empor zu heben. In der kleinſten Abweſenheit ergriff ihn ihr Anden¬ ken. War ſie ihm ſonſt nothwendig gewe¬ ſen, ſo war ſie ihm jetzt unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menſchheit an ſie ge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/79
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/79>, abgerufen am 22.12.2024.