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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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cherlich finden, wenn ich dir bekenne, daß
jene Bilder mich noch immer verfolgen, so
sehr ich sie fliehe, und daß, wenn ich mein
Herz untersuche, alle frühen Wünsche fest, ja
noch fester als sonst darin haften? Doch
was bleibt mir Unglücklichen gegenwärtig
übrig? Ach wer mir vorausgesagt hätte, daß
die Arme meines Geistes sobald zerschmettert
werden sollten, mit denen ich ins Unendliche
griff, und mit denen ich doch gewiß ein
Großes zu umfassen hofte. Wer mir das
vorausgesagt hätte, würde mich zur Ver¬
zweiflung gebracht haben. Und noch jetzt,
da das Gericht über mich ergangen ist, jetzt,
da ich die verloren habe, die anstatt einer
Gottheit mich zu meinen Wünschen hinüber
führen sollte, was bleibt mir übrig, als mich
den bittersten Schmerzen zu überlassen? O
mein Bruder, fuhr er fort, ich leugne nicht,
sie war mir bey meinen heimlichen Anschlä¬

gen

cherlich finden, wenn ich dir bekenne, daß
jene Bilder mich noch immer verfolgen, ſo
ſehr ich ſie fliehe, und daß, wenn ich mein
Herz unterſuche, alle frühen Wünſche feſt, ja
noch feſter als ſonſt darin haften? Doch
was bleibt mir Unglücklichen gegenwärtig
übrig? Ach wer mir vorausgeſagt hätte, daß
die Arme meines Geiſtes ſobald zerſchmettert
werden ſollten, mit denen ich ins Unendliche
griff, und mit denen ich doch gewiß ein
Großes zu umfaſſen hofte. Wer mir das
vorausgeſagt hätte, würde mich zur Ver¬
zweiflung gebracht haben. Und noch jetzt,
da das Gericht über mich ergangen iſt, jetzt,
da ich die verloren habe, die anſtatt einer
Gottheit mich zu meinen Wünſchen hinüber
führen ſollte, was bleibt mir übrig, als mich
den bitterſten Schmerzen zu überlaſſen? O
mein Bruder, fuhr er fort, ich leugne nicht,
ſie war mir bey meinen heimlichen Anſchlä¬

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[208/0216] cherlich finden, wenn ich dir bekenne, daß jene Bilder mich noch immer verfolgen, ſo ſehr ich ſie fliehe, und daß, wenn ich mein Herz unterſuche, alle frühen Wünſche feſt, ja noch feſter als ſonſt darin haften? Doch was bleibt mir Unglücklichen gegenwärtig übrig? Ach wer mir vorausgeſagt hätte, daß die Arme meines Geiſtes ſobald zerſchmettert werden ſollten, mit denen ich ins Unendliche griff, und mit denen ich doch gewiß ein Großes zu umfaſſen hofte. Wer mir das vorausgeſagt hätte, würde mich zur Ver¬ zweiflung gebracht haben. Und noch jetzt, da das Gericht über mich ergangen iſt, jetzt, da ich die verloren habe, die anſtatt einer Gottheit mich zu meinen Wünſchen hinüber führen ſollte, was bleibt mir übrig, als mich den bitterſten Schmerzen zu überlaſſen? O mein Bruder, fuhr er fort, ich leugne nicht, ſie war mir bey meinen heimlichen Anſchlä¬ gen

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/216>, abgerufen am 24.11.2024.