Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

ter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide
mit dem rothen Band um den Kopf in süßer
Ruhe, und dachte sich selbst so nahe zu ihr
hin, daß ihm vorkam, sie müßte nun von ihm
träumen. Seine Gedanken waren lieblich,
wie die Geister der Dämmerung; Ruhe und
Verlangen wechselten in ihm, die Liebe lief
mit schaudernder Hand tausendfältig über
alle Saiten seiner Seele, es war, als wenn
der Gesang der Sphären über ihm stille
stünde, um die leisen Melodien seines Her¬
zens zu belauschen.

Hätte er den Hauptschlüssel bey sich ge¬
habt, der ihm sonst Marianens Thüre öffne¬
te, er würde sich nicht gehalten haben, wür¬
de ins Heiligthum der Liebe eingedrungen seyn.
Doch er entfernte sich langsam, schwankte
halb träumend unter den Bäumen hin, woll¬
te nach Hause, und ward immer wieder um¬
gewendet; endlich als er's über sich vermoch¬

ter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide
mit dem rothen Band um den Kopf in ſüßer
Ruhe, und dachte ſich ſelbſt ſo nahe zu ihr
hin, daß ihm vorkam, ſie müßte nun von ihm
träumen. Seine Gedanken waren lieblich,
wie die Geiſter der Dämmerung; Ruhe und
Verlangen wechſelten in ihm, die Liebe lief
mit ſchaudernder Hand tauſendfältig über
alle Saiten ſeiner Seele, es war, als wenn
der Geſang der Sphären über ihm ſtille
ſtünde, um die leiſen Melodien ſeines Her¬
zens zu belauſchen.

Hätte er den Hauptſchlüſſel bey ſich ge¬
habt, der ihm ſonſt Marianens Thüre öffne¬
te, er würde ſich nicht gehalten haben, wür¬
de ins Heiligthum der Liebe eingedrungen ſeyn.
Doch er entfernte ſich langſam, ſchwankte
halb träumend unter den Bäumen hin, woll¬
te nach Hauſe, und ward immer wieder um¬
gewendet; endlich als er’s über ſich vermoch¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0186" n="178"/>
ter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide<lb/>
mit dem rothen Band um den Kopf in &#x017F;üßer<lb/>
Ruhe, und dachte &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;o nahe zu ihr<lb/>
hin, daß ihm vorkam, &#x017F;ie müßte nun von ihm<lb/>
träumen. Seine Gedanken waren lieblich,<lb/>
wie die Gei&#x017F;ter der Dämmerung; Ruhe und<lb/>
Verlangen wech&#x017F;elten in ihm, die Liebe lief<lb/>
mit &#x017F;chaudernder Hand tau&#x017F;endfältig über<lb/>
alle Saiten &#x017F;einer Seele, es war, als wenn<lb/>
der Ge&#x017F;ang der Sphären über ihm &#x017F;tille<lb/>
&#x017F;tünde, um die lei&#x017F;en Melodien &#x017F;eines Her¬<lb/>
zens zu belau&#x017F;chen.</p><lb/>
            <p>Hätte er den Haupt&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;el bey &#x017F;ich ge¬<lb/>
habt, der ihm &#x017F;on&#x017F;t Marianens Thüre öffne¬<lb/>
te, er würde &#x017F;ich nicht gehalten haben, wür¬<lb/>
de ins Heiligthum der Liebe eingedrungen &#x017F;eyn.<lb/>
Doch er entfernte &#x017F;ich lang&#x017F;am, &#x017F;chwankte<lb/>
halb träumend unter den Bäumen hin, woll¬<lb/>
te nach Hau&#x017F;e, und ward immer wieder um¬<lb/>
gewendet; endlich als er&#x2019;s über &#x017F;ich vermoch¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0186] ter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide mit dem rothen Band um den Kopf in ſüßer Ruhe, und dachte ſich ſelbſt ſo nahe zu ihr hin, daß ihm vorkam, ſie müßte nun von ihm träumen. Seine Gedanken waren lieblich, wie die Geiſter der Dämmerung; Ruhe und Verlangen wechſelten in ihm, die Liebe lief mit ſchaudernder Hand tauſendfältig über alle Saiten ſeiner Seele, es war, als wenn der Geſang der Sphären über ihm ſtille ſtünde, um die leiſen Melodien ſeines Her¬ zens zu belauſchen. Hätte er den Hauptſchlüſſel bey ſich ge¬ habt, der ihm ſonſt Marianens Thüre öffne¬ te, er würde ſich nicht gehalten haben, wür¬ de ins Heiligthum der Liebe eingedrungen ſeyn. Doch er entfernte ſich langſam, ſchwankte halb träumend unter den Bäumen hin, woll¬ te nach Hauſe, und ward immer wieder um¬ gewendet; endlich als er’s über ſich vermoch¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/186
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/186>, abgerufen am 24.11.2024.