Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

es denn ein so großes Unglück, zwey Liebha¬
ber zu besitzen? Und wenn du auch deine
Zärtlichkeit nur dem einen schenken kannst;
so sey wenigstens dankbar gegen den andern,
der, nach der Art wie er für dich sorgt, ge¬
wiß dein Freund genannt zu werden ver¬
dient.

Es ahndete meinem Geliebten, versetzte
Mariane dagegen mit Thränen, daß uns
eine Trennung bevorstehe; ein Traum hat
ihm entdeckt, was wir ihm so sorgfältig zu
verbergen suchen. Er schlief so ruhig an
meiner Seite. Auf einmal höre ich ihn ängst¬
liche, unvernehmliche Töne stammeln. Mir
wird bange, und ich wecke ihn auf. Ach!
mit welcher Liebe, mit welcher Zärtlichkeit,
mit welchem Feuer umarmt' er mich! O
Mariane! rief er aus, welchem schrecklichen
Zustande hast du mich entrissen! Wie soll
ich dir danken. daß du mich aus dieser Hölle

es denn ein ſo großes Unglück, zwey Liebha¬
ber zu beſitzen? Und wenn du auch deine
Zärtlichkeit nur dem einen ſchenken kannſt;
ſo ſey wenigſtens dankbar gegen den andern,
der, nach der Art wie er für dich ſorgt, ge¬
wiß dein Freund genannt zu werden ver¬
dient.

Es ahndete meinem Geliebten, verſetzte
Mariane dagegen mit Thränen, daß uns
eine Trennung bevorſtehe; ein Traum hat
ihm entdeckt, was wir ihm ſo ſorgfältig zu
verbergen ſuchen. Er ſchlief ſo ruhig an
meiner Seite. Auf einmal höre ich ihn ängſt¬
liche, unvernehmliche Töne ſtammeln. Mir
wird bange, und ich wecke ihn auf. Ach!
mit welcher Liebe, mit welcher Zärtlichkeit,
mit welchem Feuer umarmt’ er mich! O
Mariane! rief er aus, welchem ſchrecklichen
Zuſtande haſt du mich entriſſen! Wie ſoll
ich dir danken. daß du mich aus dieſer Hölle

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0108" n="100"/>
es denn ein &#x017F;o großes Unglück, zwey Liebha¬<lb/>
ber zu be&#x017F;itzen? Und wenn du auch deine<lb/>
Zärtlichkeit nur dem einen &#x017F;chenken kann&#x017F;t;<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ey wenig&#x017F;tens dankbar gegen den andern,<lb/>
der, nach der Art wie er für dich &#x017F;orgt, ge¬<lb/>
wiß dein Freund genannt zu werden ver¬<lb/>
dient.</p><lb/>
            <p>Es ahndete meinem Geliebten, ver&#x017F;etzte<lb/>
Mariane dagegen mit Thränen, daß uns<lb/>
eine Trennung bevor&#x017F;tehe; ein Traum hat<lb/>
ihm entdeckt, was wir ihm &#x017F;o &#x017F;orgfältig zu<lb/>
verbergen &#x017F;uchen. Er &#x017F;chlief &#x017F;o ruhig an<lb/>
meiner Seite. Auf einmal höre ich ihn äng&#x017F;<lb/>
liche, unvernehmliche Töne &#x017F;tammeln. Mir<lb/>
wird bange, und ich wecke ihn auf. Ach!<lb/>
mit welcher Liebe, mit welcher Zärtlichkeit,<lb/>
mit welchem Feuer umarmt&#x2019; er mich! O<lb/>
Mariane! rief er aus, welchem &#x017F;chrecklichen<lb/>
Zu&#x017F;tande ha&#x017F;t du mich entri&#x017F;&#x017F;en! Wie &#x017F;oll<lb/>
ich dir danken. daß du mich aus die&#x017F;er Hölle<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0108] es denn ein ſo großes Unglück, zwey Liebha¬ ber zu beſitzen? Und wenn du auch deine Zärtlichkeit nur dem einen ſchenken kannſt; ſo ſey wenigſtens dankbar gegen den andern, der, nach der Art wie er für dich ſorgt, ge¬ wiß dein Freund genannt zu werden ver¬ dient. Es ahndete meinem Geliebten, verſetzte Mariane dagegen mit Thränen, daß uns eine Trennung bevorſtehe; ein Traum hat ihm entdeckt, was wir ihm ſo ſorgfältig zu verbergen ſuchen. Er ſchlief ſo ruhig an meiner Seite. Auf einmal höre ich ihn ängſt¬ liche, unvernehmliche Töne ſtammeln. Mir wird bange, und ich wecke ihn auf. Ach! mit welcher Liebe, mit welcher Zärtlichkeit, mit welchem Feuer umarmt’ er mich! O Mariane! rief er aus, welchem ſchrecklichen Zuſtande haſt du mich entriſſen! Wie ſoll ich dir danken. daß du mich aus dieſer Hölle

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/108
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/108>, abgerufen am 28.11.2024.