Den andern Morgen erwachte Mariane nur zu neuer Betrübniß; sie fand sich sehr allein, mochte den Tag nicht sehen, blieb im Bette und weinte. Die Alte setzte sich zu ihr, such¬ te ihr einzureden, sie zu trösten; aber es ge¬ lang ihr nicht, das verwundete Herz so schnell zu heilen. Nun war der Augenblick nahe, dem das arme Mädchen wie dem letzten ihres Lebens entgegen gesehen hatte. Konnte man sich auch in einer ängstlichern Lage füh¬ len? Ihr Geliebter entfernte sich, ein unbe¬ quemer Liebhaber drohte zu kommen, und das größte Unheil stand bevor, wenn beide, wie es leicht möglich war, einmal zusammen¬ treffen sollten.
Beruhige dich, Liebchen, rief die Alte: verweine mir deine schönen Augen nicht! Ist
G 2
Zwölftes Capitel.
Den andern Morgen erwachte Mariane nur zu neuer Betrübniß; ſie fand ſich ſehr allein, mochte den Tag nicht ſehen, blieb im Bette und weinte. Die Alte ſetzte ſich zu ihr, ſuch¬ te ihr einzureden, ſie zu tröſten; aber es ge¬ lang ihr nicht, das verwundete Herz ſo ſchnell zu heilen. Nun war der Augenblick nahe, dem das arme Mädchen wie dem letzten ihres Lebens entgegen geſehen hatte. Konnte man ſich auch in einer ängſtlichern Lage füh¬ len? Ihr Geliebter entfernte ſich, ein unbe¬ quemer Liebhaber drohte zu kommen, und das größte Unheil ſtand bevor, wenn beide, wie es leicht möglich war, einmal zuſammen¬ treffen ſollten.
Beruhige dich, Liebchen, rief die Alte: verweine mir deine ſchönen Augen nicht! Iſt
G 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0107"n="99"/></div><divn="3"><head><hirendition="#g">Zwölftes Capitel.</hi><lb/></head><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p><hirendition="#in">D</hi>en andern Morgen erwachte Mariane nur<lb/>
zu neuer Betrübniß; ſie fand ſich ſehr allein,<lb/>
mochte den Tag nicht ſehen, blieb im Bette<lb/>
und weinte. Die Alte ſetzte ſich zu ihr, ſuch¬<lb/>
te ihr einzureden, ſie zu tröſten; aber es ge¬<lb/>
lang ihr nicht, das verwundete Herz ſo ſchnell<lb/>
zu heilen. Nun war der Augenblick nahe,<lb/>
dem das arme Mädchen wie dem letzten<lb/>
ihres Lebens entgegen geſehen hatte. Konnte<lb/>
man ſich auch in einer ängſtlichern Lage füh¬<lb/>
len? Ihr Geliebter entfernte ſich, ein unbe¬<lb/>
quemer Liebhaber drohte zu kommen, und<lb/>
das größte Unheil ſtand bevor, wenn beide,<lb/>
wie es leicht möglich war, einmal zuſammen¬<lb/>
treffen ſollten.</p><lb/><p>Beruhige dich, Liebchen, rief die Alte:<lb/>
verweine mir deine ſchönen Augen nicht! Iſt<lb/><fwplace="bottom"type="sig">G 2<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[99/0107]
Zwölftes Capitel.
Den andern Morgen erwachte Mariane nur
zu neuer Betrübniß; ſie fand ſich ſehr allein,
mochte den Tag nicht ſehen, blieb im Bette
und weinte. Die Alte ſetzte ſich zu ihr, ſuch¬
te ihr einzureden, ſie zu tröſten; aber es ge¬
lang ihr nicht, das verwundete Herz ſo ſchnell
zu heilen. Nun war der Augenblick nahe,
dem das arme Mädchen wie dem letzten
ihres Lebens entgegen geſehen hatte. Konnte
man ſich auch in einer ängſtlichern Lage füh¬
len? Ihr Geliebter entfernte ſich, ein unbe¬
quemer Liebhaber drohte zu kommen, und
das größte Unheil ſtand bevor, wenn beide,
wie es leicht möglich war, einmal zuſammen¬
treffen ſollten.
Beruhige dich, Liebchen, rief die Alte:
verweine mir deine ſchönen Augen nicht! Iſt
G 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/107>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.