herrschaft nicht zugestehn, und die Einzelnen widersetzen sich ihrem Zwangsrechte. Der Staat will alles zu öffentlichen, allgemeinen Zwecken, der Einzelne zu häuslichen, herzli¬ chen, gemüthlichen. Ich war von Kindheit auf Zeuge solcher Bewegungen gewesen, wo die Geistlichkeit es bald mit ihren Oberen, bald mit der Gemeine verdarb. Ich hatte mir daher in meinem jugendlichen Sinne fest¬ gesetzt, daß der Staat, der Gesetzgeber, das Recht habe, einen Cultus zu bestimmen, nach welchem die Geistlichkeit lehren und sich be¬ nehmen solle, die Laien hingegen sich äußer¬ lich und öffentlich genau zu richten hätten; übrigens sollte die Frage nicht seyn, was Jeder bey sich denke, fühle oder sinne. Da¬ durch glaubte ich alle Collisionen auf einmal gehoben zu haben. Ich wählte deshalb zu meiner Disputation die erste Hälfte dieses Thema's: daß nämlich der Gesetzgeber nicht allein berechtigt, sondern verpflichtet sey, ei¬
herrſchaft nicht zugeſtehn, und die Einzelnen widerſetzen ſich ihrem Zwangsrechte. Der Staat will alles zu oͤffentlichen, allgemeinen Zwecken, der Einzelne zu haͤuslichen, herzli¬ chen, gemuͤthlichen. Ich war von Kindheit auf Zeuge ſolcher Bewegungen geweſen, wo die Geiſtlichkeit es bald mit ihren Oberen, bald mit der Gemeine verdarb. Ich hatte mir daher in meinem jugendlichen Sinne feſt¬ geſetzt, daß der Staat, der Geſetzgeber, das Recht habe, einen Cultus zu beſtimmen, nach welchem die Geiſtlichkeit lehren und ſich be¬ nehmen ſolle, die Laien hingegen ſich aͤußer¬ lich und oͤffentlich genau zu richten haͤtten; uͤbrigens ſollte die Frage nicht ſeyn, was Jeder bey ſich denke, fuͤhle oder ſinne. Da¬ durch glaubte ich alle Colliſionen auf einmal gehoben zu haben. Ich waͤhlte deshalb zu meiner Disputation die erſte Haͤlfte dieſes Thema's: daß naͤmlich der Geſetzgeber nicht allein berechtigt, ſondern verpflichtet ſey, ei¬
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herrſchaft nicht zugeſtehn, und die Einzelnen
widerſetzen ſich ihrem Zwangsrechte. Der
Staat will alles zu oͤffentlichen, allgemeinen
Zwecken, der Einzelne zu haͤuslichen, herzli¬
chen, gemuͤthlichen. Ich war von Kindheit
auf Zeuge ſolcher Bewegungen geweſen, wo
die Geiſtlichkeit es bald mit ihren Oberen,
bald mit der Gemeine verdarb. Ich hatte
mir daher in meinem jugendlichen Sinne feſt¬
geſetzt, daß der Staat, der Geſetzgeber, das
Recht habe, einen Cultus zu beſtimmen, nach
welchem die Geiſtlichkeit lehren und ſich be¬
nehmen ſolle, die Laien hingegen ſich aͤußer¬
lich und oͤffentlich genau zu richten haͤtten;
uͤbrigens ſollte die Frage nicht ſeyn, was
Jeder bey ſich denke, fuͤhle oder ſinne. Da¬
durch glaubte ich alle Colliſionen auf einmal
gehoben zu haben. Ich waͤhlte deshalb zu
meiner Disputation die erſte Haͤlfte dieſes
Thema's: daß naͤmlich der Geſetzgeber nicht
allein berechtigt, ſondern verpflichtet ſey, ei¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/69>, abgerufen am 24.11.2024.
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