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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Zug von Theilnahme darin aufgethan hätte;
aber sie sah immer so ruhig aus wie ein
Bild, sie äußerte sich selten, in der Gegen¬
wart ihres Vaters nie. Kaum aber war sie
einige Tage mit meiner Mutter allein, und
hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieser
theilnehmenden Frau in sich aufgenommen,
als sie sich ihr mit aufgeschlossenem Herzen zu
Füßen warf und unter tausend Thränen bat,
sie da zu behalten. Mit dem leidenschaftlich¬
sten Ausdruck erklärte sie: als Magd, als
Sklavin wolle sie zeitlebens im Hause blei¬
ben, nur um nicht zu ihrem Vater zurück
zu kehren, von dessen Härte und Tyranney
man sich keinen Begriff machen könne. Ihr
Bruder sey über diese Behandlung wahnsin¬
nig geworden; sie habe es mit Noth so lan¬
ge getragen, weil sie geglaubt, es sey in je¬
der Familie nicht anders, oder nicht viel bes¬
ser; da sie aber nun eine so liebevolle, heitere,
zwanglose Behandlung erfahren, so werde ihr

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Zug von Theilnahme darin aufgethan haͤtte;
aber ſie ſah immer ſo ruhig aus wie ein
Bild, ſie aͤußerte ſich ſelten, in der Gegen¬
wart ihres Vaters nie. Kaum aber war ſie
einige Tage mit meiner Mutter allein, und
hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieſer
theilnehmenden Frau in ſich aufgenommen,
als ſie ſich ihr mit aufgeſchloſſenem Herzen zu
Fuͤßen warf und unter tauſend Thraͤnen bat,
ſie da zu behalten. Mit dem leidenſchaftlich¬
ſten Ausdruck erklaͤrte ſie: als Magd, als
Sklavin wolle ſie zeitlebens im Hauſe blei¬
ben, nur um nicht zu ihrem Vater zuruͤck
zu kehren, von deſſen Haͤrte und Tyranney
man ſich keinen Begriff machen koͤnne. Ihr
Bruder ſey uͤber dieſe Behandlung wahnſin¬
nig geworden; ſie habe es mit Noth ſo lan¬
ge getragen, weil ſie geglaubt, es ſey in je¬
der Familie nicht anders, oder nicht viel beſ¬
ſer; da ſie aber nun eine ſo liebevolle, heitere,
zwangloſe Behandlung erfahren, ſo werde ihr

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[515/0523] Zug von Theilnahme darin aufgethan haͤtte; aber ſie ſah immer ſo ruhig aus wie ein Bild, ſie aͤußerte ſich ſelten, in der Gegen¬ wart ihres Vaters nie. Kaum aber war ſie einige Tage mit meiner Mutter allein, und hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieſer theilnehmenden Frau in ſich aufgenommen, als ſie ſich ihr mit aufgeſchloſſenem Herzen zu Fuͤßen warf und unter tauſend Thraͤnen bat, ſie da zu behalten. Mit dem leidenſchaftlich¬ ſten Ausdruck erklaͤrte ſie: als Magd, als Sklavin wolle ſie zeitlebens im Hauſe blei¬ ben, nur um nicht zu ihrem Vater zuruͤck zu kehren, von deſſen Haͤrte und Tyranney man ſich keinen Begriff machen koͤnne. Ihr Bruder ſey uͤber dieſe Behandlung wahnſin¬ nig geworden; ſie habe es mit Noth ſo lan¬ ge getragen, weil ſie geglaubt, es ſey in je¬ der Familie nicht anders, oder nicht viel beſ¬ ſer; da ſie aber nun eine ſo liebevolle, heitere, zwangloſe Behandlung erfahren, ſo werde ihr 33 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/523>, abgerufen am 25.11.2024.