Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

vertrautesten Umgang einen ungeregelten Lauf
ließ. Seine Unterhaltung war mannichfaltig
und höchst unterrichtend; und konnte man
ihm nachsehen, daß er sich, seine Persönlich¬
keit, seine Verdienste, sehr lebhaft vorem¬
pfand, so war kein Umgang wünschenswer¬
ther zu finden. Da mich nun überhaupt das
was man Eitelkeit nennt, niemals verletzte,
und ich mir dagegen auch wieder eitel zu seyn
erlaubte, das heißt, dasjenige unbedenklich
hervorkehrte, was mir an mir selbst Freude
machte; so kam ich mit ihm gar wohl über¬
ein, wir ließen uns wechselsweise gelten und
schalten, und weil er sich durchaus offen und
mittheilend erwies, so lernte ich in kurzer
Zeit sehr viel von ihm.

Beurtheil' ich nun aber einen solchen
Mann, dankbar, wohlwollend und gründlich,
so darf ich nicht einmal sagen, daß er eitel
gewesen. Wir Deutschen mißbrauchen das
Wort eitel nur allzu oft: denn eigentlich führt

vertrauteſten Umgang einen ungeregelten Lauf
ließ. Seine Unterhaltung war mannichfaltig
und hoͤchſt unterrichtend; und konnte man
ihm nachſehen, daß er ſich, ſeine Perſoͤnlich¬
keit, ſeine Verdienſte, ſehr lebhaft vorem¬
pfand, ſo war kein Umgang wuͤnſchenswer¬
ther zu finden. Da mich nun uͤberhaupt das
was man Eitelkeit nennt, niemals verletzte,
und ich mir dagegen auch wieder eitel zu ſeyn
erlaubte, das heißt, dasjenige unbedenklich
hervorkehrte, was mir an mir ſelbſt Freude
machte; ſo kam ich mit ihm gar wohl uͤber¬
ein, wir ließen uns wechſelsweiſe gelten und
ſchalten, und weil er ſich durchaus offen und
mittheilend erwies, ſo lernte ich in kurzer
Zeit ſehr viel von ihm.

Beurtheil' ich nun aber einen ſolchen
Mann, dankbar, wohlwollend und gruͤndlich,
ſo darf ich nicht einmal ſagen, daß er eitel
geweſen. Wir Deutſchen mißbrauchen das
Wort eitel nur allzu oft: denn eigentlich fuͤhrt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0520" n="512"/>
vertraute&#x017F;ten Umgang einen ungeregelten Lauf<lb/>
ließ. Seine Unterhaltung war mannichfaltig<lb/>
und ho&#x0364;ch&#x017F;t unterrichtend; und konnte man<lb/>
ihm nach&#x017F;ehen, daß er &#x017F;ich, &#x017F;eine Per&#x017F;o&#x0364;nlich¬<lb/>
keit, &#x017F;eine Verdien&#x017F;te, &#x017F;ehr lebhaft vorem¬<lb/>
pfand, &#x017F;o war kein Umgang wu&#x0364;n&#x017F;chenswer¬<lb/>
ther zu finden. Da mich nun u&#x0364;berhaupt das<lb/>
was man Eitelkeit nennt, niemals verletzte,<lb/>
und ich mir dagegen auch wieder eitel zu &#x017F;eyn<lb/>
erlaubte, das heißt, dasjenige unbedenklich<lb/>
hervorkehrte, was mir an mir &#x017F;elb&#x017F;t Freude<lb/>
machte; &#x017F;o kam ich mit ihm gar wohl u&#x0364;ber¬<lb/>
ein, wir ließen uns wech&#x017F;elswei&#x017F;e gelten und<lb/>
&#x017F;chalten, und weil er &#x017F;ich durchaus offen und<lb/>
mittheilend erwies, &#x017F;o lernte ich in kurzer<lb/>
Zeit &#x017F;ehr viel von ihm.</p><lb/>
        <p>Beurtheil' ich nun aber einen &#x017F;olchen<lb/>
Mann, dankbar, wohlwollend und gru&#x0364;ndlich,<lb/>
&#x017F;o darf ich nicht einmal &#x017F;agen, daß er eitel<lb/>
gewe&#x017F;en. Wir Deut&#x017F;chen mißbrauchen das<lb/>
Wort eitel nur allzu oft: denn eigentlich fu&#x0364;hrt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[512/0520] vertrauteſten Umgang einen ungeregelten Lauf ließ. Seine Unterhaltung war mannichfaltig und hoͤchſt unterrichtend; und konnte man ihm nachſehen, daß er ſich, ſeine Perſoͤnlich¬ keit, ſeine Verdienſte, ſehr lebhaft vorem¬ pfand, ſo war kein Umgang wuͤnſchenswer¬ ther zu finden. Da mich nun uͤberhaupt das was man Eitelkeit nennt, niemals verletzte, und ich mir dagegen auch wieder eitel zu ſeyn erlaubte, das heißt, dasjenige unbedenklich hervorkehrte, was mir an mir ſelbſt Freude machte; ſo kam ich mit ihm gar wohl uͤber¬ ein, wir ließen uns wechſelsweiſe gelten und ſchalten, und weil er ſich durchaus offen und mittheilend erwies, ſo lernte ich in kurzer Zeit ſehr viel von ihm. Beurtheil' ich nun aber einen ſolchen Mann, dankbar, wohlwollend und gruͤndlich, ſo darf ich nicht einmal ſagen, daß er eitel geweſen. Wir Deutſchen mißbrauchen das Wort eitel nur allzu oft: denn eigentlich fuͤhrt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/520
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/520>, abgerufen am 25.11.2024.