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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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ein schöner, der Poesie zusagender Gedanke,
die Menschen nicht durch den obersten Welt¬
herrscher, sondern durch eine Mittelfigur her¬
vorbringen zu lassen, die aber doch, als Ab¬
kömmling der ältesten Dynastie, hierzu wür¬
dig und wichtig genug ist; wie denn über¬
haupt die griechische Mythologie einen uner¬
schöpflichen Reichthum göttlicher und mensch¬
licher Symbole darbietet.

Der Titanisch-gigantische, himmelstürmen¬
de Sinn jedoch verlieh meiner Dichtungsart
keinen Stoff. Eher ziemte sich mir, darzu¬
stellen jenes friedliche, plastische, allenfalls dul¬
dende Widerstreben, das die Obergewalt an¬
erkannt, aber sich ihr gleichsetzen möchte. Doch
auch die kühneren jenes Geschlechts, Tanta¬
lus, Ixion, Sisyphus, waren meine Heili¬
gen. In die Gesellschaft der Götter aufge¬
nommen, mochten sie sich nicht untergeordnet
genug betragen, als übermüthige Gäste ih¬
res wirthlichen Gönners Zorn verdient und

ein ſchoͤner, der Poeſie zuſagender Gedanke,
die Menſchen nicht durch den oberſten Welt¬
herrſcher, ſondern durch eine Mittelfigur her¬
vorbringen zu laſſen, die aber doch, als Ab¬
koͤmmling der aͤlteſten Dynaſtie, hierzu wuͤr¬
dig und wichtig genug iſt; wie denn uͤber¬
haupt die griechiſche Mythologie einen uner¬
ſchoͤpflichen Reichthum goͤttlicher und menſch¬
licher Symbole darbietet.

Der Titaniſch-gigantiſche, himmelſtuͤrmen¬
de Sinn jedoch verlieh meiner Dichtungsart
keinen Stoff. Eher ziemte ſich mir, darzu¬
ſtellen jenes friedliche, plaſtiſche, allenfalls dul¬
dende Widerſtreben, das die Obergewalt an¬
erkannt, aber ſich ihr gleichſetzen moͤchte. Doch
auch die kuͤhneren jenes Geſchlechts, Tanta¬
lus, Ixion, Siſyphus, waren meine Heili¬
gen. In die Geſellſchaft der Goͤtter aufge¬
nommen, mochten ſie ſich nicht untergeordnet
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[479/0487] ein ſchoͤner, der Poeſie zuſagender Gedanke, die Menſchen nicht durch den oberſten Welt¬ herrſcher, ſondern durch eine Mittelfigur her¬ vorbringen zu laſſen, die aber doch, als Ab¬ koͤmmling der aͤlteſten Dynaſtie, hierzu wuͤr¬ dig und wichtig genug iſt; wie denn uͤber¬ haupt die griechiſche Mythologie einen uner¬ ſchoͤpflichen Reichthum goͤttlicher und menſch¬ licher Symbole darbietet. Der Titaniſch-gigantiſche, himmelſtuͤrmen¬ de Sinn jedoch verlieh meiner Dichtungsart keinen Stoff. Eher ziemte ſich mir, darzu¬ ſtellen jenes friedliche, plaſtiſche, allenfalls dul¬ dende Widerſtreben, das die Obergewalt an¬ erkannt, aber ſich ihr gleichſetzen moͤchte. Doch auch die kuͤhneren jenes Geſchlechts, Tanta¬ lus, Ixion, Siſyphus, waren meine Heili¬ gen. In die Geſellſchaft der Goͤtter aufge¬ nommen, mochten ſie ſich nicht untergeordnet genug betragen, als uͤbermuͤthige Gaͤſte ih¬ res wirthlichen Goͤnners Zorn verdient und

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/487>, abgerufen am 23.11.2024.